A review by tinido
Sommerlieben by Hedwig Dohm

funny lighthearted relaxing fast-paced
  • Plot- or character-driven? Character
  • Strong character development? It's complicated
  • Loveable characters? Yes
  • Diverse cast of characters? It's complicated
  • Flaws of characters a main focus? Yes

4.0

Hedwig Dohm war eine der großen deutschen Frauenrechtlerinnen, die schon in den 1860ern einen sehr viel radikaleren und auch intersektionalen Ansatz zur Emanzipation vertreten hat als viele andere bürgerliche Frauen. So hat sie das Hausfrauen-Ideal zum Beispiel nicht nur als patriarchalen Scheiß kritisiert, sondern auch analysiert, warum bürgerliche Frauen selbst so hoch in dieses Rolle investiert sind. Bis ins hohe Alter hat sie in ihren politischen und sozialen Schriften eine sehr scharfe Feder geführt, deswegen ist der witzige, charmante Ton dieses Briefromanchens für mich eine Überraschung gewesen. Was aber gar nicht heißt, dass Dohm hier die gewaltsamen gesellschaftlichen Mechanismen der spätwilhelminischen Gesellschaft verharmlost. Man bekommt sie durch die Feder der Briefeschreiberin Marie Luise, einer "alten Jungfer", vermittelt, die Briefe an ihren verwitweten / geschiedenen (das bleibt etwas im unklaren) Schwager in Berlin schreibt , mit dessen zwei Kindern sie das erste Mal alleine in der Sommerfrische auf Usedom ist. (Der Roman spielt um 1909.) Marie Luise hat einen sehr klaren Blick auf die Verhältnisse und was ihre Zwänge und Grenzen mit den Menschen machen (gerade auch was Erziehung von Kindern angeht), aber sie sieht auch die vielen Freiheiten, die man sich als bürgerliche weibliche Personen schon nehmen kann, wenn man nicht zu konventionell ist. Die Briefe kreisen darum, dem Vater in Berlin zu vermitteln, wie die Stimmung in der Sommerfrische so ist, was die beiden Kinder treiben und was sie so von den beiden denkt sowie über die Dynamiken zwischen Arbeitgeberinnen und Hausangestellten. Es gibt Klatsch und Tratsch. Man lernt außerdem implizit einiges über die Ökonomie des Sommerfrischen-Tourismus an der Ostsee um 1900, und dass sich auch damals schon Kinder ständig über die Regeln der Erwachsenen hinwegzusetzen versuchten und eine eigene Kultur hatten. (Erstaunlich für mich war besonders, wie viel unbeaufsichtigte Zeit es da in der Sommerfrische für die Kinder gibt, unter anderem weil die Mütter anderes zu tun haben, zum Beispiel ausschlafen. Und dass es dazu anscheinend einen ganz ähnlichen Diskurs gab, wie heute darüber, dass Kinder zu unbeaufsichtigt im Internet sind oder um ihren Medienkonsum.) Im Grunde handelt hier eine Frau, die erstmals ein paar Jahre für sich allein gelebt hat, nachdem sie sehr lange ihre Mutter betreut hat, mit sich und der Gesellschaft aus, wie das wohl gehen könnte, sich zurück in die familiäre Care-Arbeit zu begeben, aber eben als eigenständiges Wesen mit eigenen Ideen und Wünschen. 
Die Büchergilde Gutenberg präsentiert diese erstaunlich modern klingende Brief-Novelle in einer sehr hübsch gemachten Ausgabe mit einem eher verfechtbarem Vorwort und einem guten Nachwort, das den Text in der Karriere Hedwig Dohms situiert. 
Das hübsche Büchlein ist auch ein super Geschenk, gerade für den Urlaub. 

Expand filter menu Content Warnings