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England's Hidden Reverse: Coil - Current 93 - Nurse with Wound by David Keenan

sounds_dreadful's review against another edition

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informative medium-paced

4.5

kroppzeugvertilger's review against another edition

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5.0

Ich hatte ja an anderer Stelle bereits erwähnt, dass es mir allmählich unter den Nägeln juckt, wieder vermehrt musikalische Orbits abseits heimeliger 90er-BM-Kannonaden abzuschweifen. Und das Lesejahr 2021 ist planmäßig durchaus musikalisch geprägt, da der ganze Szene- und Kulturbuchquatsch sonst im Regal einzustauben droht. - Eigentlich jedoch beginnt die Story mit einem schlechten Gewissen. Nämlich jenem, das ich zunehmend verspürte, als ich, vorm Bücherregal stehend, England's Hidden Reverse immer wieder auf später verschob. Denn exakt dieses - wie ich jetzt mit Bestimmtheit sagen kann - Meisterwerk triggerte unlängst nicht nur eine kaum zu erwartende Wiedergeburt meiner Faszination für Experimentelle Musik, der Umstand freut mich auch numerisch, da es beinahe auf den Tag genau fünf Jahre her ist, dass mir ein bis heute guter, wertvoller Freund dies' Buch zum Geburtstag schenkte. Himmel, ich liebe ungerade Zahlen, egal ...

Das Problem mit Begriffen wie Meisterwerk besteht dabei in erster Linie darin, dass sie allzu flächendeckend verwendet werden, was letztlich die Wertigkeit des Begriffs selbst verwässert. Was ein Glück, dass wir's hier mit Sachliteratur zu tun haben, uns den ganzen Rattenschwanz einer Interpretation ersparen dürfen und schlicht von einem Referenzwerk reden können. Erleichterung und Fakt zugleich.

Entgegen der einen oder anderen Behauptung seitens zum Glück weniger Kritikerplebse, Keenan würde hier bewusst verschiedenste Teilstränge im UK-Underground-Künstlerzirkel der frühen 80er aussparen, macht und machte es nur Sinn, sich die drei wichtigsten und prägendsten (und langlebigsten, prä-, inter- oder posthum erfolgreichsten, etc.) Projekte vorzunehmen und genau diese Epizentren so gut es nur eben möglich ist, auszuleuchten. Denn die Formel geht auf: Ohne Coil keinen Techno, ohne Nurse With Wound keinen Industrial/Noise und ohne Current 93 keinen Neo- oder Postfolk. Ohne Balance/Sleazy, ohne Stapleton, ohne Tibet würden wir heuer nicht die Musik hören, die wir hören, wäre die Musik nicht da, wo sie heute ist. Sei es nun schroffes Gepolter oder psychedelisches Gedudel. Wenn man sich hinzudenkt, dass diese ganzen miteinander kulminierenden, begründenden Schlüsselmomente vor wenig mehr als 30 Jahren vor sich gingen, (mehr oder weniger) schlicht passierten, kann man einfach nur ehrfurchtsvoll zurücksinken und sich versinnbildlichen, wie universell der Terminus Musik eigentlich ist ...

Dabei hatte ich freilich Glück, dass die bereits erwähnten drei Größen hier als Fixpunkte gesetzt wurden. Immerhin hatte ich mich mit Coil und vor allem C93 über einige Jahre bereits recht eindringlich befasst, sodass ich beide Bands durchaus zu meinen Lieblingen zähle. O, wie jungfräulich fühle ich mich nach der Lektüre, da's mir fast - beinahe in der Tat - so scheint, als hätte ich bislang nur an der Oberfläche gekratzt. Quantitativ wie qualitativ, denn nicht nur werden viele Entwicklungsschritte der stets variierenden Künstlergruppen und ihrer Kernfiguren genannt, Erstere werden auch ganz konkret in den Kontext der jeweils aktuellen Album-Veröffentlichungen gestellt. Allein die Zusammenhänge zwischen z.B. dem erweiterten Zugang Balance's zu Schwulenpornos Mitte der 80er und welche Auswirkungen das wiederum auf die Musik von Coil hatte, macht Letztere nicht nur greifbarer, es macht sie auch menschlicher und persönlicher, sensibler. Sleazy und Balance, als Paar und Künstler (definitiv ein Begriff, den ich wo es nur geht, versuche zu vermeiden), atmeten die gleiche Luft aus wie ein Marquis De Sade, ein James Baldwin oder vermutlich auch ein Warhol.

Keenan's Herangehensweise an NWW und C93 ist freilich ähnlich geartet, wenn auch das Potential ähnlich mitzureißen wie Coil schwer davon abhängt, wie gut oder schlecht man Stapletons und Tibets Lebensprojekte kennt und schätzt. Und nicht zuletzt, wie wohlwollend man mit den Schrullen der jeweiligen Person umgehen kann oder will. Eine Wertung obliegt hier dem interessierten Geist selbst. Ich für meinen Teil genoss überschwänglich, einmal so etwas wie einen biographischen Einblick in Tibets Werdegang zu haben. (Tibet: Der einzige Christ, den ich um seinen Glauben beneide.) Im Vergleich dazu, habe ich von Nurse With Wound beinahe kaum einen Schimmer. (Ein Problem, bei welchem mir ein gewisser Herr Schneider bereits seine Unterstützung versprach.) In Summe ist man ob der Diversität verschiedenster separat und/oder zusammen arbeitender Charaktere schlicht überwältigt - und verliebt.

Die Herausforderung bei einer (noch so lausig zusammengeschusterten) Rezension zu Sachliteratur stellt vermutlich stets die Bewertung der unterhaltenden Lesbarkeit dar: die Verschmelzung von Fakt und Kommentar, um eine anregende Melange zu generieren, zu bewerten. Nun, Keenan meistert diese (vermeintliche?) Hürde beinahe erschreckend elegant. Nicht nur findet er ein nahezu optimales Gleichgewicht darin, wer wann und warum zu Wort kommt, denn ein Gros des Buches besteht aus originell und clever eingebauten Interview-Segmenten. Er schafft es auch, verschiedene Epöchlein, künstlerische Entwicklungsschritte und die handelnden Figuren so gut anzuordnen und ins Verhältnis zu bringen, dass nicht nur eine Art Sippencharakter, sondern daraus auch ein ungemein schlüssiger Lesefluss entsteht. Kurzum - und ich wiederhole mich hier gerne - Referenzwerk!

Es ist über die Maße erstaunlich und freilich anregend, wie fruchtbar die frühen 80er waren. Sei's nun sexuelle Identifikation, postpolitische Agitation, schlichte Provokation, Drogenexzesse, usw. usf. - Begriffe, die uns in unseren postmodernen (jeweiligen) Szeneselbstverständnissen nahezu alltäglich erscheinen, wurden hier zu einer Erweiterung des Kunstbegriffs zusammengefügt, die wohl nie ganz durchdrungen oder verstanden werden, nur aber retrospektiv heroisiert werden kann. Vielleicht war hier wirklich eine Art Magie im Spiel ...

gyrus's review against another edition

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5.0

Utterly absorbing and entertaining. An essential history of one of the most interesting post-punk scenes, and a vital, under-exposed period in London's cultural history. Superb production, wonderful images.
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