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Ich hatte bereits das erste Buch von Christina Clemm (Akteneinsicht) gelesen. Danach war ich so unfassbar wütend und diesmal ging es mir nicht anders.

Als Anwältin vertritt die Autorin Menschen (vor allem Frauen), die Opfer von Gewalttaten wurden. Dabei erlebt sie immer wieder, wie sehr diese allein gelassen, retraumatisiert und sogar kriminalisiert werden. Wie wenig ihnen geglaubt wird.

Clemm analysiert diesmal außerdem den Frauenhass in unserer Gesellschaft, wie er zu bestimmten Gerichtsurteilen und natürlich nicht zuletzt zur Ausübung der Gewalt beiträgt. Sie kritisiert, dass unser Rechtssystem von Männern erschaffen wurde und damit einige blinde Flecken aufweist, eigentlich reformiert gehört.

 Die Sozialwissenschaftlerin Habermann hat recht, wenn sie festhält: Recht war und ist durch männliche Sichtweisen geprägt. Auch das Strafrecht entspringt ungleichen Machtverhältnissen zwischen den Geschlechtern, in denen männliche Interessen bestimmend sind. Die mangelnde Repräsentation von Frauen im Recht – insbesondere in der Entstehung und Entwicklung des Rechts – führt dazu, dass ihre Sichtweisen und Interessen weniger berücksichtigt werden. 

Und keine Angst: Clemm ist pro Unschuldsvermutung und das Recht auf Verteidigung, hat aber einige andere gute Ideen, wie man Opfern helfen und sie besser schützen könnte.
Täter erfahren viel zu häufig Verständnis für ihre Grausamkeit und das wirkt sich strafmildernd aus.

 Er tötet in dem Bewusstsein, dass der Verlust seines Ansehens durch das Dulden der Handlungen der Frau massiver ist als der, ein Frauenmörder zu sein. Wenn er auch für die Tötung bestraft wird, kann er doch auf Verständnis für seine Tat vertrauen, werden seine Verzweiflung, seine Verlustangst, seine Erniedrigung und sein Schmerz gesehen werden. 

Ein Femizid wird vor Gericht oft zum Totschlag statt zum Mord, auch dann, wenn der Täter seine Tat lange geplant und sogar mehrfach angekündigt hat.
Misogynie floriert grade wieder so richtig und hat oft fatale Folgen.

 Klaus Theweleit hat in seinem Buch Das Lachen der Täter die Ideologien von Attentätern analysiert und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass Frauenhass Attentäter weltweit miteinander verbindet, unabhängig davon, ob sie ein geschlossenes rechtsextremes, antisemitisches oder islamistisches Weltbild haben. 

Ein zentrales Thema ist Besitzanspruch. Die Frau wird nicht als gleichberechtigter Mensch wahrgenommen, sondern gehört dem Mann. Dementsprechend entmachtet fühlt er sich, wenn sie die Beziehung beendet, ein Leben ohne ihn, vielleicht sogar mit einem Anderen, führen möchte. Und auch wenn immer behauptet wird, dass diese Männer töten, weil sie ihre (Ex-)Partnerin halten wollen, so bereuen doch die wenigsten ihre Tat, obwohl die Frau ja nun nie mehr mit ihnen zusammen sein kann. Aber halt auch mit niemandem sonst, ihr ganzes Leben ist vorbei. Und das beflügelt die Täter manchmal regelrecht, sie sind während und nach dem Mord geradezu euphorisch (wie ich in einer Sendung zu dem Thema im Deutschlandfunk hören durfte).

 Rita Segato schreibt, dass ein Mann, der im Schutz des häuslichen Raums Frauen missbraucht und tötet, die von ihm abhängig sind, dies macht, weil er es kann – sie sind bereits Teil des Territoriums, das er beherrscht. 

Clemm fragt sich, warum die jährlich im dreistelligen Bereich liegende Anzahl der ermordeten Frauen und die noch viel, viel höhere Zahl derer, die häusliche Gewalt erleb(t)en niemanden so richtig interessiert. Und liefert eine treffende Antwort:

 Es könnte unter anderem daran liegen, dass es hier erstaunlich gut gelingt, den Anschein der Gleichstellung der Geschlechter zu erwecken. Auch daran, dass es besonders gängig ist, Opfer und Taten zu individualisieren und den Opfern eine Mitschuld zu geben. (…) statt zu fragen, was sind das für Männer, welchen Männlichkeitsbildern folgen sie? Warum hat sie niemand gestoppt? 

Ich habe mich früher immer gefragt, warum grade Frauen ihren Geschlechtsgenossinnen eine Mitschuld an Gewalt oder gar Mord geben. Unsolidarisch, ja sogar fast schon bösartig fand ich das. Heute verstehe ich es aber besser. Wenn man sich einredet, dass man nur bestimmten Regeln, einem Skript folgen muss, dann kann es einem selbst ja nicht passieren. Wenn sie was falsch gemacht hat, dann muss ich ja einfach nur ihre Fehler vermeiden und dann bin ich sicher. Was natürlich ein völliger Trugschluss ist, aber eben dazu beiträgt, dass man sich etwas besser fühlt.

Clemm schreibt sehr klar und präzise, redet nicht um den heißen Brei. Und auch wenn ich ein oder zwei Wörter nachschlagen musste (easy dank eReader), ist die Sprache zugänglich und für alle geeignet.

Viele der Beispiele von Gewalttaten im Buch sind schwer zu ertragen und ich musste immer wieder Pausen machen. Es kam bei mir so viel hoch, all die Frauenfeindlichkeit, die ich erlebt habe, seit ich ein Kind war. Häusliche Gewalt, die Trennung nicht akzeptieren, Stalking, Sprüche, so verdammt viele Übergriffigkeiten, immer wieder das ungefragte Anfassen (schon von Jungs in der Grundschule), bis hin zu schwerster sexualisierter Gewalt. Und das bin nur ich. 

Bei anderen Frauen habe ich genauso viel miterlebt. Der Mann, der meine Freundin beim Spieleabend geohrfeigt hat; der, dessen Frau nicht an das eigene Geld darf; der, der seine Frau (und die Kinder) so lange regelmäßig verprügelt hat, bis die Söhne erwachsen waren und dasselbe mit ihm gemacht haben (der Scheidungsantrag der Frau in den 80ern wurde übrigens abgelehnt, weil er sich ja reumütig zeigte und Besserung gelobte – sie hat es nie wieder versucht); der frühere Nachbar, der seine Frau so zugrechtet hat, dass wir nachts die Polizei rufen mussten; der Mann, der seine Frau ermordet und sich dann suizidiert hat, wodurch sein Kind, meine Klassenkameradin, bei entfernten Verwandten aufwuchs; der Arzt, der bekannt für ungebührliches Verhalten war und vor dem sich Frauen gewarnt haben; der Bekannte eines Arbeitskollegen meiner Mutter, der grade auf Geschäftsreise ist und keine Ahnung hat, dass die Frau die Gelegenheit nutzt, um endlich zu fliehen. Ich könnte ewig so weiter machen, das sind nur wenige Beispiele. Und nein, ich lebe nicht im sozialen Brennpunkt, sondern in der guten bürgerlichen Mitte der Gesellschaft. Wir müssen die Täter endlich ins Visier nehmen – und auch die, die schweigen!

 Jede*r hat schon einmal mit einem Gewaltopfer gesprochen, mit einem Täter scheinbar niemand. Die gibt es im eigenen Bekanntenkreis gar nicht. 

Clemm geht auf viele Orte ein, an denen Frauen Machtmissbrauch und Gewalt erleben, vom Taxi über die Arztpraxis bis hin zum eigenen Job. Die Geschichten sind erschreckend und gleichzeitig sehr vertraut. Und dann wundern sich Menschen wenn ich sage, dass ich extra in die nächste Stadt fahre, weil es in meiner nur Ärzte und keine Ärztin gibt.
Das ist ja immer das Paradoxe: passiert uns etwas, sind wir irgendwie selber schuld, haben was falsch gemacht und uns nicht richtig geschützt. Außerdem hätten wir es ja wissen müssen. Erzählen wir aber offen von unseren Maßnahmen, unseren Umwegen und unserer Vorsicht, dann stellen wir Männer unter Generalverdacht und spinnen.

Ich kann das Buch jedenfalls wirklich allen sehr empfehlen, grade Männern, die es aber wohl eher nicht lesen werden (Clemm selbst schreibt, dass ihre Vorträge sehr gut besucht, Männer im Publikum aber leider rar sind).
Ich schließe mit einem letzten Zitat:

 Wer eine gerechte Gesellschaft für alle will, dem kann es nicht um Teilhabe an Macht gehen, sondern der muss für ihre Abschaffung kämpfen.