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Provinzlust: Erotikshops in Ostdeutschland by Uta Bretschneider, Jens Schöne

queen_in_yellow's review

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informative reflective fast-paced

4.0

"Sexshops in Ostdeutschland? Weirdly specific!" war mein erster Gedanke, als ich das Buch auf der Leipziger Buchmesse am Verlagsstand erspäht habe. Und genau das war dann auch der Grund, warum ich es mitgenommen habe, ich wollte unbedingt mehr darüber wissen, warum zwei Wissenschaftler:innen sich mit Erotikgeschäften im Osten beschäftigen, wo es die doch eigentlich überall gibt (und immer weniger, weil Internet und so).
Aber das eigentliche Thema des Buches ist ein ganz anderes, das wird sehr schnell deutlich. Die Sex-Shops sind nämlich nur ein Beispiel, sie stehen stellvertretend für die Jahre der Transformation nach der Wende, die 90er Jahre im Osten Deutschlands. Damals schossen die Erotikläden wie Pilze aus dem Boden, denn in der DDR durfte es sie nicht geben und die Menschen waren geradezu hungrig nach dieser neuen Form des Konsums. Es mutet schon sehr verrückt an, wenn die interviewten Betreiber:innen erzählen, dass sie Zeitschriften und Filme für dreistellige(!) Markbeträge verkaufen konnten und wie viel Geld sie in den ersten Jahren mit diesen Läden gemacht haben.
Doch so schnell der Boom kam, so schnell war er auch wieder vorbei und Mitte der 90er Jahre mussten die ersten Läden schon wieder schließen. Von denen, die es geschafft haben, die allen Widrigkeiten zum Trotz heute noch existieren, von denen handelt dieses Buch. Die Betreiber:innen erzählen in Interviews von ihren Lebensgeschichten, Brüchen in Biographien, der Aufbruchs- und Goldgräberstimmung nach der Wende und von dem neuen Geschäftssinn, der die Bürger erfasste. Aber es geht auch viel um enttäuschte Hoffnungen, um Diskriminierungserfahrungen, die bis heute nachwirken. Beispielsweise, dass westdeutsche Großhändler von den ostdeutschen Geschäftsleuten nur Bargeld annehmen und ihnen keine Rechnungen ausstellen wollten, aus Angst, sie würden ihr Geld nicht bekommen. 
Abgerundet wird das Ganze dann noch durch ein Gespräch mit dem Pressesprecher von ORION und zwei Beispielen aus Leipzig und Berlin, um die Unterschiede zwischen Stadt und "Provinz" aufzuzeigen.

Alles in allem eine sehr interessante und auch durchaus unterhaltsame Lektüre für alle, die die Transformationsgeschichte mal aus einem anderen Blickwinkel betrachten wollen. Gegen Ende hat mein Erkenntnisgewinn dann aber auch nachgelassen und das letzte Viertel des Buches habe ich dann nur noch überflogen, weil sich dann irgendwann die Aussagen und Erlebnisse doch sehr ähneln. Deshalb nur 4 Sterne, auch im Kontext des Preises, der mit 35€ doch sehr happig ist. 
Wen das nicht abschreckt, dem möchte ich das Buch aber sehr gerne empfehlen!
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