A review by muyelinh
Mord in Kanton by Robert van Gulik

informative mysterious reflective slow-paced
  • Plot- or character-driven? A mix
  • Strong character development? No
  • Loveable characters? Yes
  • Diverse cast of characters? No
  • Flaws of characters a main focus? No

2.5

Fazit zur Richter Di-Reihe

Richter Di ist eine Legende des alten China, ein Protoyp des edlen, meisterhaft gewandten Beamten, der Verbrechen aufklärt und die Ordnung des Riesenreiches der Tang-Dynastie aufrecht erhält. Die zahlreichen Fälle, die Robert van Gulik dieser Person gewidmet hat, sind sich in Struktur und Stil ähnlich, weshalb diese Rezension sich auf alle von ihm erdachten Reihentitel bezieht.

Auch heute noch lösen die Krimis Begeisterungsstürme aus, auf einschlägigen Portalen wimmelt es von 5-Sterne-Rezensionen. Auch ich konnte mich der Faszination des redlichen und gleichzeitig cleveren Protagonisten kaum entziehen. Ich bin RvG dankbar, dass er Richter Di nicht zu einem verschrobenen, in Rätseln sprechenden Kauz gemacht hat, der im modernen Krimi so omnipräsent ist, sondern zu einer in jeder Hinsicht nachvollziehbaren Figur. Er ist klug, aber er macht auch Fehler, kann autoritär auftreten und leise Töne anschlagen, er bleibt immer sympathisch. Und seine Mitstreiter Ma Jung und Tschiao Tai haben es mir besonders angetan - Tatkräftige Ermittler mit Witz und Esprit, die beide jeden Band, in dem sie vorkommen, aufwerten.

Ich rate dennoch davon ab, diese Krimis heute zu lesen, vor allem in dieser Menge. Und das hat verschiedene Gründe.

Da ist zunächst einmal die Tatsache, dass die Werke in den 50er und frühen 60er Jahren geschrieben wurden. Man kann sagen, was man will, aber man merkt es ihnen an. Was von zeitgenössischen Blättern als "ungemein süffig" eingestuft wurde, ist in diesem Fall in der Kategorie Spannung gegenüber im 21. Jahrhundert entstandenen Krimis einfach nicht mehr konkurrenzfähig. Ohne Wenn und Aber. 

Mir ist allerdings durchaus bewusst, dass man hier einen unfairen Maßstab ansetzt und der Wert der Reihe woanders liegt - in ihrer Funktion als Milieuroman des chinesischen Mittelalters. 
Fast immer wird die Authentizität des Settings von Rezensenten gelobt. Und ich möchte auf keinen Fall in Abrede stellen, dass der Autor ein versierter Kenner des alten China gewesen ist und eine für einen Ausländer geradezu absurde Einsicht in die Gegebenheiten dieser Kultur gewonnen und vermittelt hat. Zahlreiche dieser Inhalte finden ihren Platz in den Romanen. Und doch ist ein tiefes Eintauchen in die fremde Welt, ein echtes China-Feeling, bei mir nur in den seltensten Fällen möglich gewesen.

Vielleicht liegt das an der deutschen Übersetzung. Diese ist nahezu durchgehend sehr, sehr holprig, bisweilen sogar, als handle es sich um ein Sachbuch. Chaos als Spannungselement fehlt schlicht. Jede Handlung unterliegt einem starren organisatorischen Korsett, die chinesische Gesellschaft duldet keine Aufmischung.
Einzelne Wörter, die mich immer und immer wieder aus der exotischen Schilderung rissen, möchte ich hier ebenfalls anführen: "Boxer" als Bezeichnung für einen Straßenkämpfer ist schon fast lächerlich anachronistisch. "Hausbesorger"? Das klingt nach der Bundesrepublik der 60er Jahre, und überhaupt nicht nach 650 nach Christus. Und was bitte ist ein "Ölkuchen"? Gibt es dafür keine adäquatere Übersetzung. Selbst ein chinesischer Begriff wäre hier passender gewesen. Dass das Brettspiel Go durchgehend als "Schach" bezeichnet wird, ist nur die Spitze des Eisbergs. Derlei Begrifflichkeiten finden sich zuhauf. Die Übersetzung ist ein hohes Hindernis in dem Bestreben, eine fremde Welt zu entdecken.

Authentizität ist gut und wichtig. Aber sie hat da ihre Grenzen, wo sie den Plot ausbremst. In jedem Roman der Reihe hat der Richter es nicht mit einem, sondern mit drei Fällen zu tun. Authentisch (ohne Sarkasmus!) bis ins Detail! Aber mich kann eine Lektüre kaum befriedigen, wenn ich spätestens nach zwei Dritteln eines Buches geistig aussteige, weil die drei Fälle so sehr ineinander verworren sind, dass man den Überblick verliert. Die Idee ist sehr sehr löblich, aber die Umsetzung fast immer ein Gordischer Knoten, der die ohnehin mäßige Spannung oft gekillt hat. Selbst wenn teilweise überragende Twists eingebaut wurden (wie in "Nächtlicher Spuk im Mönchskloster", für mich der beste Teil der Reihe), wollte ich in den wenigsten Fällen wirklich um jeden Preis wissen, wies ausgeht.

Ein weiterer Punkt betrifft die Namensgebung, die Authentizität ebenfalls vor Marktgerechtigkeit angesiedelt hat. Antonio Garrido, der, ebenfalls als Europäer, mit "Der Totenleser" den besten mir bekannten historischen Roman im Alten China geschrieben hat, merkt im Schlusswort an, er habe bewusst ähnliche Namen vermieden und starke Unterscheidungen verwendet, da niemand einen Roman lesen wolle, in dem die Protagonisten "Song, Dong, Fong, Kong, Kang, Fang, Feng, Peng und Ming" hießen. Van Gulik löst dieses Problem anders, nämlich durch Namensdopplungen oder zumindest starke Ähnlichkeiten bei vollkommen verschiedenen Figuren. Erneut sicher überaus authentisch, aber eben auch unfassbar unpraktisch. Ich kann mich an nahezu keinen Plot mehr wirklich erinnern, einfach, weil ich überhaupt nicht mehr weiß, wer, abgesehen von den wiederkehrenden Hauptfiguren, jetzt in welchem Roman eine Rolle gespielt hat.

Abschließend möchte ich noch das frappierend unangenehme Frauenbild von van Gulik ansprechen. Weibliche Personen haben zwar oft genug auch positive Charakterzüge, aber durch alle Bände zieht sich eine unterschwellige Sexualisierung, die ganz sicher nicht mehr authentisch ist. So ist es völlig normal, dass Frauen aus der Unterschicht und sogar Mittelschicht mit entblößten Oberkörpern herumspazieren. Kontextualisiert wird das nicht, den Büchern nach zu urteilen, muss das alte China eine unfassbar fteizügige, dauerlüsterne Gesellschaft gewesen sein (Dazu auch der Fakt, dass eine von einem Mann vor einer Vergewaltigung gerettete Frau diesem in ihrem Haus als Belohnung umgehend Sex anbietet... Nein, einfach nein.). Auch in jeder zweiten Illustration mit einer Frau reckt diese einem ihre sekundären Geschlechtsmerkmale ins Blickfeld. Oft genug sind diese Bilder sogar die Coverzierde. Was hat sich der Diogenes-Verlag bitte dabei gedacht? Jedesmal, wenn ich im ÖPNV eines der Bücher gelesen habe, haben meine Mitfahrer wohl denken müssen, ich läse einen Schmuddelroman. In einem Forum habe ich die Mutmaßungen gefunden, van Gulik sei, nachdem er von der sexuellen Entscheidungsmacht des Mannes im frühen China durch sein Quellenstudium erfahren hatte, so frustriert über die emanzipierteren Konventionen seiner Zeit gewesen, dass er seine sexuellen Fantasien in den Romanen ausgelebt habe. Das kann ich nsch der Lektüre einfach nur bestätigen. 

Auch wenn die Reihe sicherlich fachlich exzellent umgesetzt wurde, haben diese Einschränkungen mir den Lesespass leider oft verdorben. Kann ich die positiven Rezensionen trotzdem nachvollziehen? Ja, denn man kann, gerade, wenn man vielleicht etwas älter ist als 22 und ein bisschen weniger Vorkenntnisse über China hat, mit den Büchern sicher ungemein Spaß haben. Würde ich mir die Reihe noch einmal kaufen und komplett lesen? Nein. Definitiv nicht.