A review by isabella_reads
Mr Gwyn by Ann Goldstein, Alessandro Baricco

4.0

Worum geht’s?

Jasper Gwyn hat genug vom Literaturzirkus: Der berühmte Schriftsteller stellt eine Liste mit Dingen auf, die er nie wieder tun will – unter anderem „Bücher schreiben“. Doch schon nach kurzer Zeit merkt er, dass ihm das tägliche Schreiben fehlt. Da inspiriert ihn eine Ausstellung zu einem gewagten literarischen Experiment. Mr. Gwyn will als Kopist arbeiten und Portraits anfertigen, allerdings nicht als Gemälde, sondern in geschriebener Form. Er mietet ein Atelier an, in dem ihm fortan Menschen auf außergewöhnliche Weise Modell sitzen. Die geschriebenen Portraits bewegen ihre Empfänger zutiefst – doch dann widersetzt sich eine eigensinnige junge Frau vehement Mr. Gwyns Regeln.

Meine Meinung

Ich habe hauptsächlich auf Blogs viel Positives über diesen Roman gelesen und mich daher beim Stöbern in der Bücherei spontan für ihn entschieden. Tatsächlich wurde ich nicht enttäuscht, diese außergewöhnliche Geschichte konnte mich von Beginn an fesseln. Besonders gut gefallen hat mir, dass man ein fiktives Buch, das in „Mr Gwyn“ eine Rolle spielt, am Ende auch tatsächlich lesen kann. In Italien, Bariccos Heimatland, wurde „Dreimal im Morgengrauen“ sogar separat veröffentlicht. Baricco schreibt nicht nur über einen genialen Schriftsteller, er hat auch selbst einen fantastischen Schreibstil. Wirklich beeindruckend fand ich, wie er auf eine ganz besondere, sehr poetische Art und Weise Charaktere beschreibt.

Vor allem die interessante Grundidee hat mein Interesse an diesem Buch geweckt. Ist es möglich, Portraits zu schreiben statt sie zu malen? Die Antwort lautet: Ja, das ist es, jedoch gehört viel Kunstfertigkeit und Menschenkenntnis dazu. Rebecca, Gwyns Assistentin und erstes Modell, erklärt gegen Ende des Romans, wie der berühmte Autor vorgeht. Ich werde die Methode an dieser Stelle aber natürlich nicht verraten, das darf jeder selbst nachlesen. Insgesamt fand ich das Ende von „Mr. Gwyn“ dann leider etwas enttäuschend, ich hatte nämlich das Gefühl, dass die Geschichte noch gar nicht wirklich zu Ende erzählt ist. Außerdem hätte ich gern erfahren, wie es mit dem mysteriösen Mädchen weitergeht, das sich Gwyns Regeln entzieht.

Die faszinierendste und vielschichtigste Figur ist natürlich Schriftsteller Jasper Gwyn. Wie die meisten großen Künstler wandelt er ständig auf dem schmalen Grat zwischen Genie und Wahnsinn. Dadurch, dass er den ganzen Roman über mit Vor- und Nachnamen angesprochen wird, bleibt immer eine gewisse Distanz, aber ich hatte nie Probleme, seine Entscheidungen nachzuvollziehen. Ich fand es wirklich faszinierend, einen Einblick in die Gedankenwelt eines Künstlers zu bekommen. Baricco schreibt über Freuden und Leiden des literarischen Schaffens, wie es wohl nur ein Schriftsteller selbst kann.

Fazit

Ein unkonventioneller und faszinierender Roman über ein literarisches Experiment. Trotz kleiner Schwächen konnte Baricco mich begeistern, vor allem dank seines wunderbaren Schreibstils und des schillernden Protagonisten.