A review by miiisch
Vivian by Christina Hesselholdt

4.0

"Die Leute lieben Rätsel, das Unabgeschlossene und das Unerklärliche sind wahnsinnig anziehend. Ich bin die geheimnisvolle Dame, die durchgesägte Dame, deren Vergangenheit abgetrennt wurde." (S. 185)

Christina Hesselholdt taucht in ihrem Roman tief in die Geschichte der Vivian Maier ein. Eine Fotografin, die erst nach ihrem Tod 2009 entdeckt wurde, deren Fotos zu Lebzeiten grösstenteils unentwickelt blieben und niemals veröffentlicht wurden. Die als Nanny arbeitete, sich um Kinder kümmerte und fotografierte.
Das Buch geht alles andere als sorgfältig mit der Geschichte dieser Frau um. Sachen werden ihr angedichtet und Worte in den Mund gelegt, sodass mir beim Lesen immer und immer der Gedanke kam, wie anmassend das eigentlich von der Autorin ist. Vivian Maier, die ihr ganzes Leben lang bewusst unentdeckt blieb, nun auf ein Podest zu stellen, ihre Fotografien weltweit auszustellen, fühlt sich schon etwas komisch an. Aber eine fiktionalisierte Geschichte ihres Lebens zu schreiben?
Geschickt ist aber die Figur des Erzählers direkt in den Text eingebaut und als dieser ausgezeichnet. So wird wenigstens ein bisschen bewusst, dass es sich um eine fiktive Geschichte handelt, die bloss von Vivian und ihren Bildern inspiriert wurde.
Die Autorin war in unserem Seminar zu Gast und wir sprachen sie auf die Aneignung von Vivians Leben an. Hesselholdt antwortete ehrlich, dass sie während des Schreibens kein Bild von Vivian hatte vor sich haben können. Die Fotografin hatte sie nicht anschauen dürfen. Das sage eigentlich schon, dass die Autorin selbst es auch nicht für 100% richtig hielt, über Vivian zu schreiben. Vivian sagt im Roman schliesslich auch zum Erzähler: "Du bist schamlos. Der Erzähler ist der eigentliche Verbrecher." (S. 190)
Trotz oder eben genau wegen diesen ethischen Fragen, fährt der Roman umso mehr ein. Hesselholdt schreibt mit einer ungemeinen Sorgfalt, schreibt fast schon schnappschussartig von verschiedenen Augenblicken aus dem Leben dieser Fotografin und hält immer eine Linse auf Vivian. Es ist schwer, den Vibe des Buches zu beschreiben. Vivian ist eine hochkomplizierte Figur, mit der ich aber oft mitfühlen konnte und mich in vielem wiederfand, was über sie geschrieben wurde. Es fällt mir aber schwieriger, genau zu sagen, was ich so sehr mochte, als bei anderen Romanen.
Lest das Buch also gerne, um euch selbst eine Meinung zu bilden. ;)

Lieblingsstellen:
"Als Kind erschien es mir unbegreiflich, wie irgendetwas passieren konnte, ohne dass ich dabei war und es sah. Jetzt ist das eine Art Trost im Hinblick auf den Tod, denn eines Tages werde ich gar nicht mehr sehen können, was passiert; und gleichzeitig ist schon so vieles passiert, was ich nicht gesehen habe; daran habe ich mich also gewöhnt, und wahrscheinlich ist es dann gar nicht mehr so schlimm." (S. 34)

"Denn hier war sie, furchteinflössend hoch aufgetürmt, die Ewigkeit; jeder einzelne Tag (nehme ich an) der letzten ich weiss nicht wie vielen Jahre gebündelt, die Zeit zum Anfassen oder Anfühlen, und ich bekam schwarze Hände von der Druckerschwärze; die Ewigkeit der Tage, der Vergangenheit, der verlorenen Zeit, diese grosse Menge an Leben, das vergangen ist (das an mir vorbeigegangen ist, möchte ich fast sagen). Die Ewigkeit. Denn als die Heidin, die ich bin, kann ich die Ewigkeit nur als Zeit begreifen, die gewesen ist. Es war schockierend und anrührend. Und schrecklich. Und in gewisser Weise auch beruhigend, weil die Zeit so schnell vergeht, ich habe oft das Gefühl, sie würde mit mir davonschlittern (ich sehe nach oben, und die Blätter an den Bäumen sind schon wieder gelb), ich würde mich in einem Erdrutsch der Zeit befinden. Hier war sie stehengeblieben." (S. 96)

« (…) es gibt nur so vieles, was ich gern ausschneiden und aufheben würde. Ich kann mich nicht an alles erinnern, niemand kann sich an alles erinnern, was er liest» (Hier stieg ihre Stimme an und brach.) «Ich lege das, woran ich mich erinnern will, nach oben, damit ich es nicht vergesse. Aber es kann nicht alles gleichzeitig oben liegen.» (S. 98)

"Aber zwischen damals und jetzt liegt immerhin ein Weltkrieg, man begegnet dem eigenen Blick im Spiegel auf andere Weise. Jedenfalls so lange, bis man sich wieder daran gewöhnt hat, dass man lebt." (S. 116)