A review by missbookiverse
Without Tess by Marcella Pixley

4.0

Lang und breit
Without Tess besteht im Grunde aus drei verschiedenen Elementen. Der eigentliche Handlungsstrang spielt in der Gegenwart und schildert Lizzies Unterrichts- und Therapiestunden. Den Großteil des Buches machen Erinnerungen aus, die Lizzie von ihrer Schwester Tess und deren verrückten Fantasiespielen hat. Dazwischen finden sich Gedichte, die inhaltlich zu diesen Erinnerungen passen und Seiten aus Tess’ Pegasus Tagebuch widerspiegeln. Zugegeben, bei diesen beeindruckenden Lyrikauszügen habe ich mich schon gefragt, ob ein maximal 12jähriges Mädchen zu solchen Ergüssen fähig ist, aber Tess ist eben etwas ganz Besonderes.

Die Momente zwischen den beiden Schwestern beginnen meist ganz harmlos. Marcella Pixley schildert auf sehr authentische Weise das Spielverhalten von Kindern. Sie bemalen sich die Gesichter, um wie Pferde auszusehen, spielen Krabbenbingo und planschen im Wasser, wobei sie so tun als seien sie Robben oder Selkies. Schnell schlägt jedes dieser wunderbaren Fantasieabenteuer um in eine düstere Richtung. Manchmal wird es gefährlich, manchmal beklemmend oder sogar verstörend, zum Beispiel als Tess sich in eine Katze hineinversetzt und beginnt eine andere Katze liebevoll abzulecken.
Umso mehr dieser Abenteuer geschildert werden, desto klarer wird, dass der gemeinsame Nenner für jedes Unheil Tess ist. Auf der einen Seite liebt sie ihre Schwester, auf der anderen entwickelt sie sich immer mehr zu einer schaurigen, beinahe skrupellosen Person. Dennoch war ich stets neugierig darauf mehr von Tess zu hören und herauszufinden, was eigentlich nicht mit ihr stimmt.

Familie spielt in diesem Roman eine große Rolle. Zu Beginn wirken Mutter, Vater und Kinder sehr harmonisch zusammen. Ein Haus am Meer, die Mutter Schriftstellerin, die Schwestern beste Freundinnen. Umso herzzerreißender fand ich später Szenen, in denen die Eltern Angst um ihre Kinder bekommen. Tess weigert sich zu essen und wird zunehmend dünner. Wie reagiert man da als Mutter? Das Kind muss essen, sonst verhungert es. Ist es herzlos ihm das Essen in den Mund zu zwängen? Was macht man, wenn das eigene Kind dem Zweiten plötzlich zur Gefahr wird?
Nach Tess’ Tod ist die Familie auseinander gefallen. Der Vater arbeitet so lang wie möglich, die Mutter trauert wohl im Stillen, die Tochter kann sowohl Schwester als auch Schuldgefühle nicht loslassen. Ich war froh, dass hier nicht nur die Zerbrochenheit geschildert wird, sondern dass die Familienmitglieder noch versuchen miteinander zu reden. Lizzie bittet beispielsweise ihren Vater früher nach Hause zu kommen und isst gemeinsam mit ihrer Mutter Abendbrot. Außerdem befindet Lizzie sich in Therapie (mit einem äußerst sympathischen Schulpsychologen). Man kann ihren Weg der Besserung mitverfolgen und muss sich nicht von zu viel Negativität ertränken lassen.

Bereits im ersten Kapitel erfährt man, dass Tess gestorben ist. Das macht an der Geschichte zum Glück überhaupt nichts kaputt, vielmehr habe ich fieberhaft darauf gewartet herauszufinden, wie es zu dieser grausamen Schicksalswendung gekommen ist und inwiefern Lizzie in all das verstrickt ist.

Kurz und knapp
Eine traurige, aber dennoch hoffnungsvolle Geschichte über eine Familie, in der ein Kind komplett durchdreht. Gespickt mit schaurigen Gedichten ist Without Tess absolut lesenswert für jeden, der mal über die andere Seite von Fantasie nachdenken möchte.