A review by pascalthehoff
Frau Shibatas geniale Idee by Emi Yagi

4.0

Was man alles tun muss, um dem Corporate Grind ein Schnippchen zu schlagen...

Frau Shibata behauptet als Lifehack gegen Überstunden und sexistische Hiwi-Aufgaben spontan, sie sei schwanger. Ab sofort geht es pünktlich nach Hause und männliche Kollegen behandeln sie mit einem Mindestmaß an Respekt.

Wer nun sagt: "Ah ja, die stramme japanische Arbeitskultur, kein Wunder..." Völliger Quatsch! Der Roman würde ebenso gut im Saarland oder Oer-Erkenschwick funktionieren. Vielleicht würden mehr Frauen weltweit spontane Schwangerschaften vortäuschen, gäbe es nicht so viele Männer, die – wie in diesem Roman – aufdringliche Fragen stellen und deren Pranken um den prallen Bauch schweben. Doch ist der Roman nicht in Schwarz-Weiß-Denken gefangen und verleiht sogar dem nervigsten männlichen Charakter eine glaubwürdige menschliche Motivation für sein Verhalten. Es wird immerhin zum glaubwürdigen Versehen.

Durch ihre Lüge genießt Frau Shibata die Vorteile einer Schwangerschaft ohne viele der etlichen Nachteile. Nicht nur auf der Arbeit und in der Bahn behandeln Leute sie mit Empathie und Rücksicht; sie knüpft außerdem tiefe Verbindungen mit einer Community schwangerer Mütter. Eine angenehm warme Art von Freundschaft, über die zumindest ich als Mann mir vor diesem Roman noch nie so viele Gedanken gemacht habe. Und das, obwohl ich ähnliche Geschichten doch eigentlich von meiner eigenen Mutter kenne. Auf der anderen Seite vermittelt der Roman eindrücklich das berechtigte Misstrauen gegenüber Nichtschwangeren. Ja, sogar nichtschwangeren Frauen.

Die Geschichte lebt von ihrer unterschwelligen Spannung: Die Protagonistin verstrickt sich immer tiefer in ihre Lüge, entscheidet sich aber gleichzeitig dazu, das Spiel fortwährend weiterzutreiben und sogar zuzuspitzen.

Was beim Lesen unangenehm ist, bildet zugleich den Kern der Erzählung: Frau Shibata hat keine Gewissensbisse. Sie schuldet ihrer Firma nichts – genau so wenig wie ihren Kollegen, die ihren Kaffee nun selbst zubereiten müssen. Der Roman zeigt damit: Jede Person muss ihren eigenen Weg finden, sich mit dem endlosen Hamsterrad der Lohnarbeit zu arrangieren. "Geniale Ideen" wie die von Frau Shibata befürwortet der Roman – und wenn sie nur dazu dienen, das Büro tatsächlich um die Zeit zu verlassen, die im Arbeitsvertrag steht.

Die unbeschwerte Tonalität und der geradlinige Schreibstil unterstreichen die Nonchalance, mit der Frau Shibata sich im Leben und im Job ermächtigt. Der Titel der deutschen Übersetzung klingt zwar – wie gewohnt – selten dämlich und hat nichts mit dem Originaltitel oder dem Titel der englischen Übersetzung (Diary of a Void) zu tun. Er rahmt allerdings von Beginn an, wie genial Frau Shibatas Idee eben ist: Eine Lüge mit moralischer Hoheit.