A review by tinido
Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht by Julia Jost

challenging funny hopeful inspiring mysterious sad medium-paced
  • Plot- or character-driven? Character
  • Strong character development? It's complicated
  • Loveable characters? Yes
  • Diverse cast of characters? It's complicated
  • Flaws of characters a main focus? It's complicated

4.0

Mich hat der Blurb von Elfriede Jelinek erst einmal abgeschreckt: Ich schätze zwar die Art Literatur, wie Jelinek sie schreibt und das Literaturkonzept, das sie vertritt, in der Theorie, praktisch lese aber seit der Uni nichts mehr aus diesem "Genre". Ich finde diese Art Literatur in ihrer Fixierung auf Sprache und Gemachtsein eigentlich langweilig, und der Erfahrungsraum, der dem dann doch irgendwie zugrunde liegt, ist für mich auch uninteressant. Gut, dass ich den Titel des Romans von Juli Jost dann doch so strange und witzig fand, dass mich der Jelinek-Blurb nicht abgeschreckt hat. Jost hat für diesen Roman, der aus der Perspektive eines 7 bis 12-jährigen queeren Kindes erzählt ist, dem die Eltern und die ganze Umwelt eine weibliche Geschlechterrolle aufzuzwingen versuchen, eine ganz eigene Sprache entwickelt, die zwar offensichtlich artifiziell ist, aber so gekonnt gemacht ist, dass sie tatsächlich als erzählende Stimme funktioniert. Denn hier muss und hier soll etwas erzählt werden: eine Kindheit in einem Dorf in Kärnten um 1990, in der so viele offiziell nicht (mehr) existente Sozialfiguren, gesellschaftliche Formationen und Verhaltensweisen fröhliche Urständ feiern, dass das glaubwürdig nur als surrealistische makabre Slapstick-Szenerie und als Märchen von Kindern, die im Wald verloren gehen oder dort nur die Erwachsenen überleben können, erzählt werden kann. Dem Kind, das hier spricht, ist man nach ein paar Sätzen ganz nah und emotional verbunden. Jost führt den Text so, dass man nie in die Erwachsenenperspektive rutscht, auch nicht die einer wohlwollenden Erwachsenen, sondern immer auf der Höhe des Kindes bleibt. (Jost erlaubt sich mit der Metapher des "auf der Höhe des Erzählenden Bleibens" auch einen Scherz: Zu Anfang sitzt das Kind unter einem Lastwagen und hat einen entsprechend eingeschränkten Blick auf die Szenerie um es herum, die große Umzugsaktion vom Hof in die Stadt.) In den drei Jahren, die ungefähr von der Erzählung umfasst werde, passiert viel, und das Schlimmste gleich am Anfang, aber auch sehr schöne und zarte Sachen. Josts Umgang mit Natur bzw. mit den Naturerlebnissen des Kindes (sie ist Schutzraum, aber selbst auch bedroht und manchmal auch selbst bedrohlich) hat mir gut gefallen, auch wie sie mit dem großen Berg an literarischen Vorbildern für Kind in Natur (Stifter!) umgeht. Ich finde auch, dass sie den trickiesten Aspekt so einer queeren Coming-of-Age-Story (oder eben des Versuchs, dieses Coming-of-Age so lange es irgend geht zu verweigern) sehr gut behandelt: die Mütter-Figuren und wie sie ihre Aufgabe, das Kind weiblich zu gendern, annehmen. Diese Rolle hat immer das Potenzial, in der Beschreibung oder als Figur sehr misogyn zu werden, aber bei Jost ist dieses Spagat zwischen eigener Agency, der aktiven Annahme der Privilegien, die man im Patriarchat dadurch erhält, und individuelle Widerständigkeit wirklich gut dargestellt. 
Manchmal war es mir ein bissle zu viel mit der österreichischen Nazi-Folklore, deswegen einen Stern Abzug, aber eigentlich ist das ein Vorwurf an Österreich. 

Expand filter menu Content Warnings