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A review by jonathanelias
1Q84 by Haruki Murakami
5.0
Während Aomame weiter die Treppe hinunterstieg, musste sie an Tamaki Otsuka denken. Sie wollte es nicht, aber als der Gedanke an ihre beste Freundin sich einmal in ihrem Kopf festgesetzt hatte, konnte sie nicht mehr aufhören. Tamaki und sie waren zusammen auf der Oberschule gewesen und hatten zum gleichen Softball-Team gehört. Sie hatten viel zusammen erlebt. Einmal waren sie sich sogar sexuell nahegekommen. Damals-es war auf einer Reise in den Sommerferien gewesen - hatten sie nur noch ein Zimmer mit einem französischen Bett bekommen, indem sie gemeinsam schliefen. In diesem Bett hatten sie sich gegenseitig überall berührt. Aber lesbisch waren die beiden jungen Frauen nicht, nur neugierig. Es war eher ein Experiment in diese Richtung gewesen. Damals hatte keine von ihnen einen Freund oder überhaupt sexuelle Erfah- rungen gehabt. Die Ereignisse jener Nacht waren Aomame bis heute als eine außergewöhnliche, aber höchst interessante Episode in ihrem Leben im Gedächtnis geblieben. Doch als Aomame jetzt, während sie die offene Eisentreppe hinunter- stieg, an die Berührung von Tamakis Körper dachte, breitete sich in ihrem Inneren eine gewisse Hitze aus. Zu ihrer Ver- wunderung erinnerte sich Aomame auch jetzt noch ganz deut- lich an Tamakis ovale Brustwarzen, ihr feines Schamhaar, die hübsche Rundung ihres Hinterns und die Form ihrer Klitoris.Während sie ihren lebhaften Erinnerungen nachhing, er klang in ihrem Kopf als Hintergrundmusik das volltönende festliche Unisono der Bläser aus Janáčeks Sinfonietta. Sacht streichelte sie über Tamaki Otsukas geschwungene Taille. Anfangs hatte Tamaki noch gesagt, es kitzle, doch dann hörte sie auf zu kichern. Ihre Atmung veränderte sich. Das Stück war ursprünglich als Fanfare für ein Sportfest komponiert worden. Mit der Musik strich sanft der Wind über die grünen böhmischen Wiesen. Aomame spürte, wie Tamakis Brustwarzen sich versteiften. Die Pauken ertönten in einer komplizierten raschen Tonfolge. Aomame blieb stehen und schüttelte mehrmals leicht den Kopf. Sie durfte an einem Ort wie diesem nicht an solche Dinge denken. Sie musste sich auf den Abstieg konzentrieren. Aber sie konnte nicht aufhören. Eine nach der anderen er- schienen die Szenen von damals vor ihrem inneren Auge. Ganz deutlich, ganz frisch. Die Sommernacht, das nicht sehr breite Bett, der leichte Geruch von Schweiß. Die ausgespro- chenen Worte. Die unausgesprochenen Gefühle. Die vergesse- nen Versprechen. Das ungestillte Verlangen. Die Sehnsucht, die ihr Ziel verloren hatte. Ein Windstoß ergriff ihr Haar und schlug es ihr peitschend ins Gesicht. Der Schmerz trieb ihr die Tränen in die Augen. Und der nächste Windstoß trocknete sie. (S56)
10.12.2023 — Ey, 1-2 Stunden gelesen und schon mehrere Passagen oder Bilder, die so richtig toll sind, ein besonderer poetischer Flair, den ich so noch nicht gelesen hab. Was zauberhaftes.
Falls er aus irgendeinem Grund einmal in Schweigen verlief, schwieg er mit der Finalität eines Felsens auf der Rückseite des Mondes. (S40)
😮💜
16.12 S459
Das Buch holt mich einfach so ab. Die geheimnisvolle, einsilbig sprechende, aber intelligente Fukaeri ist so ein toller Charakter. Tengo auch. Aomame natürlich auch. Die ganze Storyline total unkonventionell, aber mit super Pacing und einfach spannend.
20.12 S811
Ein Aspekt, der mich jedes Mal aus der Immersion reißt und gewaltig nervt, sind die knowledge dumps irgendwelcher westlichen Authoren/Philosophen, die den Protagonisten in den Mund gelegt werden. Und zwar jedem, egal wie plausibel. Jeder hat mal ein tolles, wörtlichen Zitat am Start.
Fürchte dich nicht«, sagte der Mann.Fürchten?«Du fürchtest dich. Wie der Vatikan sich davor gefürchtet hat, das heliozentrische Weltbild zu akzeptieren. Nicht dass man das ptolemäische Weltbild für so besonders unfehlbar hielt. Man hatte nur Angst vor den Neuerungen, die die Einführung des heliozentrischen Weltbildes mit sich bringen würde. Und vor den damit erforderlichen Bewusstseinsänderungen. In Wahrheit hat die katholische Kirche das heliozentrische Weltbild bis heute nicht richtig akzeptiert. Du bist genauso. Du fürchtest dich davor, die schwere schützende Rüstung, die du so lange getragen hast, ablegen zu müssen.<<Aomame schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte mehrmals laut auf. Sie wollte es nicht, aber sie hatte sich nicht in der Gewalt, Gern hätte sie einen Lachanfall vorgetäuscht,
Buch 3, S267. 💜 Stil, Stimmung. Groß.
Der Wind heulte in den Ästen des Keyaki-Baums. Es klang wie das zwischen zusammengebissenen Zähnen hervorgequälte Stöhnen eines Menschen, der jede Hoffnung verloren hatte. Den Wind in den Ohren, blieb Tengo auf der Rutschbahn sitzen und starrte hinauf zu den Monden, bis er ganz steifgefroren war. Ungefähr fünfzehn Minuten lang. Vielleicht auch etwas länger. Er hatte kein Zeitgefühl. Vom Whiskey war ihm einigermaßen warm gewesen, aber jetzt war sein Körper kalt wie ein einsamer Stein auf dem Meeresgrund. Der Wind trieb die Wolken zügig gen Süden, doch es kamen immer neue nach. Hoch oben im Norden musste es eine Quelle mit einem unerschöpflichen Vorrat an Wolken geben. Ausdauernde, entschlossene Menschen in dicken grauen Uniformen produzierten dort unablässig neue. Wie Bienen Honig, Spinnen Netze und Kriege Witwen. Tengo sah auf die Uhr. Kurz vor acht. Der Park war leer. Ab und zu eilte jemand die nahegelegene Straße entlang. Die Men- schen hatten alle einen ähnlichen Gang, wenn sie auf dem Heimweg von der Arbeit waren. In dem neuen fünfstöckigen Apartmentgebäude auf der anderen Straßenseite brannte nur in etwa der Hälfte der Fenster Licht. An stürmischen Winterabenden wie diesem strahlten hellerleuchtete Fenster eine besonders anheimelnde Wärme aus. Tengo ließ seinen Blick darübergleiten. Es war, als würde er von einem kleinen Fischerboot auf dem nächtlichen Ozean zu einem prächtigen Luxusdampfer hinaufsehen. Von seinem Platz auf der kalten Rutschbahn in dem dunklen Park aus erschienen ihm die Fenster wie Tore zu einer anderen Welt.
29.12 — es ist vollbracht, 1600 Seiten durchgeschafft. Es ist mir nahegegangen, dieser ganz unique Vibe, diese Murakami-”Ness”, sehr distinkt, durchaus weird, stark wiedererkennbar. Für Aspekte wie die häufigen literarischen Referenzen hat sich eine Akzeptanz eingestellt, ein wohlwollendes Annehmen dieser Idiosynkrasien. Ebenso der “just riffing it”-Fantasieausblühungen, die alle irgendwo krude und runtergeschrieben wirken. Dieses ganze System von Daughters und Mothers und dem Samen etc pp hat man so durch sich durch rauschen lassen und seine vollumfängliche Stringenz oder Mangel der selben war irgendwie nicht so zentral. Es sind mehr die Figuren, denen man nach so einer langen Lektüre wirklich nah gekommen ist, durch die Schilderung ihres Alltags, was sie kochen, lesen, denken, fühlen. Ihre Geschichten, Aomames und Tengos gemeinsamer Hintergrund, der dann nach 1600 Seiten auch einfach mal in einem happy end kulminiert - da merkt man halt auch dass der Autor Musiker wie Stan Getz und so verehrt, es geht auch um das Verschränken von Hollywoodeskem (Detektivstory) mit diesem ganzen Surrealistischen (Alice im Wunderland). Ein sehr lesbarer und in der Kombo eben null ausgelutschter Mix.