A review by pascalthehoff
Chinas langer Marsch in die Moderne: Zwanzig nicht-eurozentristische Thesen by Beat Schneider

hopeful informative medium-paced

5.0

Zum Verkäufer im Buchhandel sagte ich noch: „Puh, das ist nun aber hoffentlich keines dieser Bücher, die China beweihräuchern, nur weil sie der Autor das Wort ‚Kommunismus‘ ein wenig zu geil findet.“ Meine Grundskepsis sollte sich beim Lesen der 20 nicht-eurozentrischen Thesen zunehmend als meine eigene eurozentrische Voreingenommenheit herausstellen.

Beat Schneider agiert mit seinem Buch als Vermittler zwischen China und der gesamten westlichen Welt. Inklusive der westlichen politischen Linken, die China ebenfalls nur selten im gesamtgesellschaftlichen Kontext betrachtet. Das Buch leistet einen wichtigen Beitrag dazu, Chinas Status quo, seine Vergangenheit und seine Pläne für die Zukunft besser zu verstehen. Indem sich das Buch klar vom Eurozentrismus abgrenzt, sticht es sogar unter den anderen „unvoreingenommenen“ Büchern über China, die wir im Westen lesen, heraus.

Die Thesen und Argumentationen des Autor sind augenöffnend und oft geradezu schockierend wasserdicht. Könnte das augenscheinlich undemokratische China tatsächlich eine stärkere, partizipativere Demokratie sein als unsere Deutschland oder die USA? Und wie kann es sein, dass ein kulturell anders gewachsenes Volk neoliberale Horror-Szenarien wie das Social Credit System tatsächlich gar nicht so schlecht findet? Einem westlichen Publikum solche Thesen zu vermitteln, ist nicht einfach. Doch dem Autor gelingen kleine und große Durchbrüche auf fast jeder Seite.

Wie sehr die zwanzig Thesen die eigene Meinung zu China ändern, ist am Ende ganz individuell. Das Buch will seine Leser*innen nicht bekehren, sondern neue Perspektiven öffnen. Es gibt zudem offen zu, dass gewisse Probleme im China des Jahres 2023, wenn auch oft vom Westen überzeichnet, letztlich nicht von der Hand zu weisen sind.

Besonders spannend ist das Buch für Menschen im Westen, die über einen Systemsturz fantasieren – eine Alternative zum von konzerninteressen getriebenen Neoliberalismus. Denn Chinas Ansatz, eine Alternative zu diesem System zu erschaffen, scheint gemäß Beat Schneiders Argumentation aufrichtiger und durchdachter, als der westliche Vorwurf des chinesischen „Staatskapitalismus“ es vermuten ließe. Laut diesem Buch ist der Begriff des Kommunismus im Parteinamen tatsächlich weit mehr als ein Überbleibsel aus der Mao-Ära.

Denn eine der zentralen Thesen des Buches, auf die man sich einlassen muss, ist: Die aktuelle Liberalisierung der chinesischen Marktwirtschaft dient bewusst dazu, eine Wohlstandsbasis zu schaffen, wie bereits Marx sie als Grundvoraussetzung für den Sozialismus beschrieben hat. So ist die kontrollierte Entfesslung der chinesischen Marktwirtschaft ein schlüssiges Manöver gemäß der marxistischen Theorie. Denn anders als westliche Länder hatte China zuvor keine Wohlstandsbasis, auf der es den Sozialismus hätte errichten können. Vor diesem Hintergrund und an diesem Maßstab müsse Chinas Modell des Sozialismus, bzw. sein Weg zum Sozialismus, gemessen werden.

Derartige Widersprüche zu akzeptieren, verlangt Beat Schneider seinen Leser*innen häufig ab. Unentwegt appelliert er, die Welt nicht nur schwarz-weiß zu sehen – und dabei die chinesische Sowohl-als-auch-Kultur im Kontrast zur westlichen Entweder-oder-Kultur zu begreifen.

In einem sich abzeichnenden zweiten Kalten Krieg sollte dieses Buch Pflichtlektüre sein. Nicht, um bekehrt zu werden, sondern um das Feindbild des Westens besser zu verstehen. Denn die blinde Verteufelung des chinesischen Systems ist nach der Lektüre nur noch schwer möglich.