A review by aniya_
Muss ich das gelesen haben?: Was in unseren Bücherregalen und auf Literaturlisten steht - und wie wir das jetzt ändern by Teresa Reichl

informative lighthearted medium-paced

3.0

Der Titel hat mich total angesprochen, weil ich vor nicht allzu langer Zeit das fantastische Buch "Frauenliteratur" von Nicole Seifert gelesen habe und irgendwie mehr wollte. 
Vorab: ich stimme der Autorin komplett zu, wir teilen uns den selben (intersektionalen) Feminismus und sind uns dementsprechend einig.
Leider war dann aber die erste Erkenntnis, dass sich das Buch an ein sehr junges Publikum richtet und der Schreibstil leicht krampfig-locker und anstrengend daherkommt. Wer Anglizismen und (in Ermangelung eines besseren Wortes) die typische "Social-Media-Sprache" mag, ist hier gut bedient. Immerhin gibt es vernünftige Interpunktion. 
Der Aufbau ist ein bisschen wirr. Es geht bunt gemischt und Sprunghaft immer wieder um den Werdegang und persönlichen Geschmack der Autorin, um die Grundlagen (was ist Literatur überhaupt etc.) um Goethe und Schiller als Personen, um verschiedene Diskriminierungsformen, um Thomas Mann, diverse andere Autoren und irgendwann kommen dann endlich die heiß ersehnten Empfehlungen, bei denen es aber leider überraschend dünn bleibt. Es gibt einige Wiederholungen.
Für mich war nicht ganz so viel Neues dabei, was aber nicht heißt, dass ich gar nichts mitnehmen konnte oder andere hier nichts lernen. 
Die verschiedenen Diskriminierungsformen werden einfach und gut erklärt. Ich war positiv überrascht darüber, dass auch Klassismus dabei war. Der wird von Feministinnen gerne ignoriert, weil man dann nämlich sein eigenes Privileg hinterfragen müsste. Leider fällt es auch der Autorin schwer, sich dieses hier einzugestehen. Arbeiter*innenkinder haben es zwar durchaus schwerer an der Uni, aber sie sind trotzdem noch so krass privilegiert und halt die, die "es geschafft haben". Stimmen von tatsächlichen Arbeiter*innen oder gar Erwerbsarbeits- und/oder Wohnungslosen sind praktisch nicht existent. Das zeigt sich auch im Abschnitt mit Leseempfehlungen zu diesem Thema, es gibt einfach nichts Anständiges, was uns tatsächlich sichtbar machen würde und dazu noch own voices wäre. 
Übrigens ein schönes kleines Beispiel für Klassismus: eine Akademikerin darf ein Buch schreiben, in dem hemmungslos geflucht wird und die Worte "fuck" und "Alter" inflationär benutzt werden. Menschen ohne Erwerbsarbeit, die so reden, sind dagegen nicht "quirky" und "relatable", sondern werden als "asozial" bezeichnet. (Ich möchte nicht zu viel Privates preisgeben, aber ich habe Erfahrungen damit.)
Ein bisschen gewundert hat mich, dass im queeren Abschnitt Meredith Russo komplett unkritisch empfohlen wurde. Erstens gibt es durchaus auch trans Personen, die ihre Bücher nicht gut finden und kritisieren, zweitens wird ihr von ihrer Exfrau häusliche Gewalt vorgeworfen, die, soweit ich mich eingelesen habe, auch dokumentiert ist. Da hätte ich mir einen Hinweis gewünscht.
Auch wenn es nicht ganz meins war, finde ich die Intention dieses Buches sehr löblich und ich wünsche mir, dass es sein Ziel erreicht: nämlich die Bücherregale und Schullektüren vielfältiger, spannender und bunter zu machen. Das sollte uns allen ein Anliegen sein!