A review by hellyson
Im Krebsgang by Günter Grass

4.0

Das zentrale Thema der Novelle "Im Krebsgang" von Günter Grass ist der Untergang des Kraft-durch-Freude Dampfers "Wilhelm Gustloff" am 30.01.1945, gegen Ende des zweiten Weltkriegs.
Der Protagonist und Ich-Erzähler der Novelle ist ein linker Journalist, Paul Pokriefke. Er bekommt von einem ominösen "Alten", Günther Grass' alter Ego, den Auftrag, über die Geschichte des Schiffes zu recherchieren und zu schreiben. Günter Grass greift so auf geschickte Weise in das Geschehen seines eigenen Buches ein und befehlt Paul, seinem Protagonisten, die Aufarbeitung zu leisten, die seine Generation seiner Meinung nach verpasst hat.

Erst ist Paul abgeneigt, da er die Geschichte der Wilhelm Gustloff schon zu Genüge von seiner Mutter Tulla gehört hat, die Überlebende des Schiffsunglücks ist und nichts anderes tut, als darüber zu reden und ihn dazu drängt, darüber zu schreiben ("...musste aufschraiben...") und das Erlebte zu manifestieren.

Auch Pauls Schicksal ist unfehlbar mit dem der Gustloff verknüpft, wurde er doch genau am Tag ihres Untergangs geboren, auf dem Boot, was seine Mutter vor dem Tod durch Ertrinken rettete.
Paul beginnt zu recherchieren und beschäftigt sich eingehend mit den Personen die zur Benennung und dem Untergang der Wilhelm Gustloff geführt haben.

Gekonnt verfolgt Grass die verschiedenen Handlungsstränge der Personen. So erfährt der Leser von dem Landesgruppenleiter der NSDAP Wilhelm Gustloff, von dem Juden und Medizinstudent David Frankfurter und vom Leben des U-Boot-Kommandanten Alexander Marinesko, der den Befehl zum Abschuss der Torpedos gegeben hat, die zum Untergang der Wilhelm Gustloff führten und den Umständen die zum Mord Gustloffs durch Frankfurter führten.

So werden sowohl die Leben der real historischen Personen beleuchtet als auch fiktive Handlungsstränge über die von Grass erdachte Familie Pokriefke. Tulla, die Mutter des Protagonisten, indoktriniert ihren Enkel Konrad, genannt Konny, mit ihrem Gerede über "ewigsinkende Schiffe" und setzt, gänzlich von ihrem Sohn enttäuscht, all ihre Hoffnung auf Konrad.

Paul beginnt sich immer tiefer in die Materie einzuarbeiten und entdeckt im Internet die Website "www.blutzeuge.de", auf welcher die ganze Gustloff-Geschichte aus rechter Seite beleuchtet und die historische Figur Wilhelm Gustloff zum Märtyrer, zum Blut zeugen deklariert wird.
Nach einiger Zeit, die Paul auf der Website verbracht hat scheint ihm einer der User fatal an jemanden zu erinnern, seinen eigenen Sohn.

Das Buch setzt sich intensiv mit dem Nationalsozialismus auseinander, mit der Erblast und der Frage, ob mangelnde Aufarbeitung zu einer zunehmenden rechten Orientierung der Jugendlichen führt bzw. geführt hat.
Es ist sehr wichtig darüber im Bilde zu sein, vor allem als Deutscher, da man, ob man will oder nicht, unablässig mit diesem Thema konfrontiert wird. Ich bin der Wichtigkeit des natürlich Themas bewusst, trotzdem ist es teilweise auch anstrengend, sich ständig mit dem Thema befassen zu müssen. Möglicherweise geht es vor allem Schüler so, da sie das Thema über Jahre hinweg intensiv im Unterricht behandeln.
Deshalb ist es erfrischend, das Grass einen relativ unbekannten Aspekt betrachtet.

Der Untergang der Wilhelm Gustloff ist so unbekannt, bzw. war lange unbekannt, wegen der Tatsache, dass es ein Kriegsverbrechen gegen die Deutschen war. Lange wurde und konnte man nicht betonen, dass es auch, obwohl die alleinige Kriegsschuld des Zweiten Weltkriegs bei den Deutschen lag, nennenswerte Opfer auf deutscher Seite gegeben hat.
Dass eine Nation sowohl Täter als auch Opfer sein kann, leuchtet bei der Lektüre des Buches dadurch ein, dass über den Untergang der Gustloff, die nun als Flüchtlingsschiff fungierte, erstmalig, so der Autor, offen geredet wird.

Meiner Meinung nach geht es Grass auch überhaupt nicht darum, das Leid der vielen Toten, umgekommen durch deutsche Hand, zu minimieren, noch das Leid über das Bewusstsein der Täterrolle durch Übertreten in die Opferrolle zu relativieren, sondern vielmehr darum, dass genau diese Punkte in der deutschen Geschichte, über die lange geschwiegen wurde, von rechtsorientierten Individuen genutzt werden können, um in die Opferrolle überzutreten. Genau dies führt in Grass' Novelle in dem fiktiven Erzählstrang um Konni zu einer umgekehrten Wiederholung der Tat. Konni rächt sein Idol Wilhelm Gustloff und landete dadurch im Gefängnis.

Auch der Gegensatz zwischen zu viel reden über eine bestimmte Thematik und zu wenig reden und die direkten ungewollten negativen Folgen elterlichen Versagens in Form von mangelnder Zuwendung werden dargestellt.
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Insgesamt war es für mich eine angenehme Schullektüre. Trotz des teilweise anstrengenden Schreibststils, an welchem ich mich mit der Zeit gewöhnt habe, finde ich es vor allem wegen seiner Kürze, der wichtigen Thematik die es behandelt und seines literarischen Gehaltes für Jugendliche sehr wertvoll zu lesen. Nicht jeder mag mit Grass Sicht der Täter-Opfer Rolle einverstanden sein, aber allein das Darüber-Reden und Gedankenaustauschen sind Schritte zur Aufarbeitung und es ist großartig wenn Literatur so etwas leisten kann.