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A review by jonathanelias
Die Frequenzen by Clemens J. Setz
4.0
Am innersten Punkt der Hölle stand einst ein mittelgroßer Eichenholzschrank, in dem nichts hing als eine Vielzahl nervös vibrierender Kleiderbügel. Diese Kleiderbügel hielten sich an der Metallstange fest wie die vor dem Abrutschen zu einem verzweifelten Fragezeichen gekrümmten Finger des Schurken in einem James-Bond-Film- und bei der ersten Berührung, manchmal sogar schon beim ers- ten Blick, fielen alle diese Kleiderbügel - eine Generation missgestalteter, von ihrem Schöpfer verstoßener Triangeln - zu Boden, klirrten in dem hölzernen Resonanzraum desKastens und läuteten das Jüngste Gericht ein.
Er kann so toll schreiben.. kein Vergleich mit den Metaphern Joshua Groß - die sind ja einfach nur Banane dagegen.
Alles tot, alles still. Reglos wie eine Schaukel im Winter. Reglos wie ein abgestorbener Baum vor einem Schulgebäude. Allen möglichen Beschreibungen der Welt fielen nach und nach die Verben aus, wie nicht mehr be- nötigte Zähne. Die Landschaft vor den Fenstern wie ein großer, toter Wal. Den Wind einzuschalten hatte keinen Sinn mehr. Er würde ja doch nur stehen bleiben, irgendwann. Und auch das Haus, aus dem im Augenblick wohl dunkler Rauch in den Nachthimmel stieg, dieses Haus, in dessen Bauch sie unbeweglich feststeckte, würde sich nicht mehr vom Fleck rühren. Ihre Hände lagen nutzlos im Schoß. Ein wenig ringelten sich noch die Finger, weil ihnen die Berührung mit dem Hosenstoff angenehm war. Aber sonst war alles erstarrt. Sogar die Bücher in den Regalen unterdrückten, mit Mühe, wie es schien, jede noch so kleine Bewegung. (S.167)
Steiner hatte oft versucht, die drei- oder vierzeiligen Sprüche auf ihren T-Shirts zu lesen, aber dazu hätte er ihr auf die Brüste starren müssen, was natürlich nicht in Frage kam. Er hatte schon genug Schwierigkeiten mit der Aufschrift auf seinem Pyjamaoberteil: Time flies like an arrow. Zeit-Fliegen mögen einen Pfeil. Der Satz ergab überhaupt keinen Sinn. Steiner hatte den ganzen Abend darüber nachgedacht und zuletzt sogar in einem englischen Wörterbuch nachgeblättert, das noch aus seiner Schulzeit stammte. Er hatte gessen, wie schwer es war, ein Wörterbuch zu bedienen. Ständig verlor man die Seiten, die man gerade gefunden hatte. Er schüttelte den Kopf und seufzte wieder.
Herrlich. Was eine Charakterzeichnung. S.187
Diese Rezension triffts:
Rezensent Tobias Lehmkuhl hat ziemlich viel Vergnügen an der Lektüre dieses Romans von Clemens J. Setz. Deswegen scheint er ziemlich enttäuscht, als er mit ihrem Fortschreiten feststellt, dass das Buch zwar hochunterhaltsam ist, aber doch nicht als Geschichte funktioniert. Ihm fehlt einfach der erzählerische Kern, auch wenn er durchaus die selten gehörten Schwingungen genossen hat, die Setz hier erklingen lässt. Am Ende hatte Lehmkuhl aber das Gefühl, "ein zwar schönes, aber unbrauchbares Spielzeug in der Hand zu halten". Der Roman beschäftigt sich mit allerhand physischen Deformationen, und natürlich steht die Familie im Mittelpunkt. Trotzdem ist es dem Rezensenten unmöglich, die Handlungsstränge nachzuerzählen. Dazu sind sie schlicht zu überbordend. Überhaupt stecken sehr viele Ideen in dem Roman, besonders angetan ist Lehmkuhl von Setz' "unablässiger Produktion ungewöhnlicher Bilder und Analogien". https://www.perlentaucher.de/buch/clemens-j-setz/die-frequenzen.html
Es gibt quasi bei jedem Lesen kreative Ideen auf der schriftstellerischen Ebene. Mit den Figuren und der Handlung habe ich immer noch keinen wirklichen Bezug (a la “wer ist jetzt Walter noch mal”).. sie gewinnen keine richtig gute Plastizität für mich, ich identifizier mich auch nicht wirklich stark mit deren Motivationen oder Problemen.
Es gibt aber grade bei Alexander immer wieder Passagen, die schon große Literatur sind. Erinnert mich tatsächlich an Ulysses. Formal so kreativ und so dahin Mäandernd, aber intensiv “dran” an der Person & Szene.
Geniale Dialoge & Sexszenen auch.