andrepitz's reviews
16 reviews

Muldental by Daniela Krien

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challenging dark emotional medium-paced

4.0

Jeder Abend mit diesem Buch endete für mich in einem Zwiespalt: Einerseits wollte ich diese Geschichtsfragmente einfach nicht zur Seite legen, andererseits ging mir all das zwischen den beiden elektronischen Buchdeckeln wirklich an die Nieren. Und so habe ich mehrfach die Entscheidung getroffen, bereits nach einer gelesenen Geschichte den Tolino beiseitezulegen – weil da erst einmal Dinge sacken gelassen, verarbeitet und durchdacht werden mussten.

Gepackt und fasziniert hat mich diese Geschichtensammlung nicht, weil sich für mich daraus neue Erkenntnisse zur ostdeutschen Identität ergaben, sondern weil sich diese Zeilen fast alle so extrem nah anfühlten – auch aus meiner Perspektive eines in Westdeutschland Geborenen, aber in Sachsen Lebenden. Zu einen liegt das daran, dass ich die realen Geschichten hinter der Fiktion teilweise aus den lokalen und regionalen Medien kenne. Zum anderen aber auch durch die Menschen und deren ähnliche Erfahrungen und Geschichten, die ich durch meine Arbeit für verschiedene sächsische Medien kennenlernen durfte.

Mich hat fasziniert, dass "Muldental" nicht den „einfachen“ Weg wählt und die Wende als ultimative Ursache für die bitteren Schicksale so vieler Menschen zitiert. Bei einigen mag das sicherlich trotzdem der Fall gewesen sein. Aber letztlich zeigt diese Geschichtensammlung, wie alternativlos ein Großteil dieser Schicksale war. Sicherlich hat der Systemwechsel das Tempo, mit dem sich alle auf die Wand zubewegten, noch einmal erhöht. Aber gekommen wäre die Wand auch ohne Wiedervereinigung. Die Implosion der DDR-Wirtschaft war sowieso unausweichlich. Aber genau auf dieses „Was wäre wenn?“ lässt sich Daniela Kriens Buch gar nicht erst ein. Es ist die Endgültigkeit, aus der die Kraft von "Muldental" entwächst.
Noch wach? by Benjamin von Stuckrad-Barre

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dark reflective slow-paced
  • Plot- or character-driven? Character
  • Loveable characters? No

3.0

Es gab Zeiten, da war ich ein richtiger Fan von Benjamin von Stuckrad-Barre, ohne jemals auch nur eine Zeile von ihm gelesen zu haben. Von Stuckrad Late Night / Stuckrad-Barre habe ich mir alles angeschaut, was ich in die Finger kriegen konnte. Warum, kann ich heute gar nicht mehr sagen. Ich erinnere es schlicht nicht mehr. Auch nicht, was ich von Auch Deutsche unter den Opfern. hielt, was ich im Zuge meines spätjugendlichen Fantums dann gelesen habe. Entsprechend befangen-unbefangen bin ich also an seinen lange erwarteten neuen Roman Noch wach? herangegangen, den ich als Mediennerd wahrscheinlich so oder so verschlungen hätte. Zurückgelassen hat er mich dann etwas ratlos, wenn nicht gar zwiegespalten.

Denn einerseits hat Stuckrad-Barre hier einfach solide und schmissig geschriebene Popcorn-Literatur abgeliefert, die sich sehr gut weglesen lässt und dabei die so wichtige Verhandlungsmasse in lockere Unterhaltung kleidet. Wer jedoch wie ich Mediennerd ist, die Feeds mehrerer Branchendienste abonniert hat und den ein oder anderen Medienpodcast hört, wird in Noch wach? jedoch schnell eine Auflistung bereits ausführlich dokumentierter Umstände und wenig mehr sehen. Denn Stuckrad-Barre kann in Interviews noch so oft unterstreichen, dass er hier in erster Linie einen Roman geschrieben hat. Aber den trotzdem über der Geschichte schwebenden Ex-Chefredakteur und den einst freundschaftlich so verbundenen Verlagschef wird er natürlich trotzdem nicht los. Denn die Deutungshoheit über sein Werk hat nur das Publikum. Und dem wird hier eben viel von der Seitenlinie aus erzählt. 

Stuckrad-Barres Protagonist ist ausgemachter Stillstand. Er weiß zu Beginn der Geschichte bereits, was warum das Problem ist, muss nicht von A nach B gehen, sondern kann die Übung aus dem Stand heraus absolvieren und muss eigentlich kaum etwas ergründen. Was davon übrig bleibt, ist eine zu Recht in die Brüche gegangene Männerfreundschaft™ und damit eher wenig von wirklichem Belang. Und wenn das der Kommentar auf unseren gesellschaftlichen Umgang mit #MeToo sein soll, dann ist er vielleicht zutreffend, aber mit 384 Seiten im Hardcover doch etwas künstlich aufgeblasen 🤷‍♂️
Blutbuch by Kim de l'Horizon

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challenging slow-paced
  • Plot- or character-driven? Character
  • Loveable characters? It's complicated
  • Diverse cast of characters? Yes

4.0

Über etwas mehr als die Hälfte der Lesestrecke hinweg hat mich dieses Buch wirklich extrem angestrengt. Aber dann ist in mir ein Knoten geplatzt, was mich den zurückgelegten Weg noch einmal neu betrachten und den Rest der Strecke unter anderen Bedingungen angehen ließ.

Vor allem mit einem Gefühl der Ohnmacht hat mich dieser Stoff von diesem Punkt an konfrontiert. Eben weil das Buch und Kim de l’Horizon im Anschreiben gegen die Konventionen der Form offenbart, was eine binäre Welt mit Menschen machen kann, die sich nicht in dieses Muster pressen lassen. Ich kann das als weißer Hetero-Cis-Mann genau so schreiben und dann – wenn ich es den wollte – zu den Akten legen und mein Leben unbehelligt weiterleben. Menschen abseits der als Norm wahrgenommenen Binarität können das jedoch nicht. Vielleicht ist für viele von ihnen diese Ohnmacht ein noch einmal potenzierter Dauerzustand. Und diese Vorstellung allein hat etwas mit mir gemacht.

Außerdem war es für mich sehr faszinierend, wie sich das lyrische Ich durch den Akt des Schreibens eine Hülle erschafft, die der eigene Körper nie sein konnte oder es noch nicht ist.
Weiter Sehen. Von der unwiderstehlichen Magie des Kinos by Esther Kinsky

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3.0

Dieses Buch hat mit ziemlich zwiegespalten zurückgelassen. Einerseits habe ich mich so gerne in Esther Kinskys detailreiche Sprache hineingelegt und mich an den dadurch vor meinem geistigen Auge entstehenden Orten ergötzt. Andererseits bin ich an den teilweise schier nicht enden wollenden Schachtelsätzen auch fast verzweifelt. Diese beiden Erfahrungen haben für mich permanent miteinander gerungen und tun das jetzt nach dem Buch immer noch.

Schade ist, dass sie zwar völlig zu Recht den Niedergang des Kinos betrauert und klug beobachtet, was dadurch mit in den Abgrund gerissen wird, und dann trotzdem nicht die äkonomischen Verstrickungen klar benennen mag. Denn das Kino stirbt nicht nur daran, dass immer weniger Menschen Lust auf diese Art des Sehens haben, sondern in großen Teilen und ganz schnöde ausgedrückt an der Kohle. Kino muss man sich als Zuschauer*in leisten können – nicht nur finanziell, sondern auch rein zeitlich, was wiederum den Bogen zurück zum Finanziellen schließt.

Kinsky greift diese Dimension zwar auch auf, verarbeitet sie jedoch nur implizit, indem sie den Niedergang des Kinos mit der Implosion eines de facto postsowjetischen Landes verknüpft. Ich empfinde das als den eleganteren Weg, doch wird diese Variante leider von der zuweilen sehr direkt, klar und einfach formulierten Publikumskritik erstickt.

Unterm Strich habe ich das alles trotzdem sehr gerne gelesen. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass meine Kritik im Gegensatz dazu sehr hart ausfällt, weil das Kino eben auch für mich ein so wichtiger Ort ist, den ich mit Leben gefüllt sehen möchte. Ein Ort, mit dem ich nunmal mehr als nur den fetten Action-Kracher auf der Leinwand und den unerträglichen Geruch der künstlichen Käsesoße, der von der Sitznachbar*in herüberweht, verbinde.
Blaue Frau by Antje Rávik Strubel

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dark tense slow-paced

4.0

Beim Abhaken des Buches auf Goodreads habe ich schon mit halbem Auge gesehen, dass das Werk bei vielen Leser*innen, sagen wir mal, etwas prätentiös angekommen ist. Vielleicht fehlt mir in Sachen zeitgenössischer Literatur auch einfach der Erfahrungshorizont, aber mir hat diese Art zu schreiben sehr gefallen – wie Antje Rávic Strubel anfangs fast schon staccatoartig formuliert, so die zunächst gebrochene Protagonistin spiegelt und daraus Stück für Stück eine Welt zusammenbaut.

Und von der Sprachästhetik mal abgesehen: Die Auseinandersetzung mit dem theoretischen Ideal Europa kommt nie richtig in Fahrt, eröffnet aber über den Begriff der „Dunkelstellen“ den Weg weg von der Kaum einzufangenden Dimension des Diskurses in Sachen europäischer Erinnerungspolitik und -kultur hin zu Dunkelstellen, die viele (sicherlich weitestgehend Männer) nicht als solche anerkennen wollen, sie als Lappalien Angesichts des Großen und Ganzen™ verharmlosen.

Dass das Buch keine wirklich Katharsis, Utopie oder wenigstens eine mit bissigem Kommentar verbundene Hinnahme der gesellschaftlichen Realität anbietet, lässt mich zwiegespalten zurück. Das schnelle Urteil lautet Faulheit. Nach weiterem darüber Nachdenken sehe ich eventuell ein angemessenes Stilmittel, weil es eben genau den gesellschaftlich nach wie vor dürftigen Umgang mit sexualisierter Gewalt spiegelt. Jedenfalls hat mich "Blaue Frau" dazu gebracht, noch einmal neu über bestimmte Themen nachzudenken. Und entgegen der Meinung einiger auf Goodreads weit oben gelandeten Kritiken hatte ich auch beim Lesen und nicht nur dem Denken Spaß.
Jeder für sich und Gott gegen alle: Erinnerungen by Werner Herzog

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reflective

4.0

Es ist wirklich bemerkenswert, wie klar in diesem Buch Werner Herzogs Stimme durchdringt. Klar, er hat es ja auch selbst geschrieben. Trotzdem ist es eine herausragende Leistung – auch des Lektorats, das er in seiner Danksagung auch hervorhebt –, diesen Ton so präzise im geschriebenen Wort zu treffen.

Insgesamt hat mich die Lektüre des Buches nur weiter in meinem Werner-Herzog-Fantum bestätigt. Mich fasziniert seit jeher seine glasklare Härte, seine harte Klarheit und seinen schier nicht zu bändigenden Wissensdurst. Und ich weiß nicht, ob ich einen in der Öffentlichkeit stehenden Menschen oder Kunstschaffenden kenne, der sich selbst und seiner Schwächen, aber mindestens gleichermaßen auch seiner Stärken so sehr bewusst ist und das derart messerscharf und frei von Eitel oder Scham artikulieren kann.

Das bringt mitunter dann eine grandios trockene Komik mit sich – zum Beispiel, wenn er Kritik an der Cinéma-vérité-Bewegung äußert und auf die unweigerlich folgende Gegenrede nur ein „Frohes neues Jahr, ihr Versager“ übrig hat.

Ich habe all das sehr gerne gelesen, besonders die Erinnerungen an seine Kindheit im abgelegenen bayrischen Bergdorf Sachrang, die den kindlich-abenteuerlichen Spieltrieb konserviert haben und doch nicht romantisiert wirken, so klug beobachtet und niedergeschrieben wie sie sind.
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