missmesmerized's reviews
1556 reviews

Happy New Year by Malin Stehn

Go to review page

adventurous challenging

5.0

 
Silvester, letzter Tag des Jahres und die Chance, dass im neuen alles besser wird. Doch für die Familien von Lollo und Max und ihren Freunden Fredrik und Nina endet die Nacht im schlimmsten Horror. Ihre Töchter feiern eine Party, am Ende ist eine davon tot. Die Eltern zwischen Vorwürfen und Schuldgefühlen. Haben sie ihre Kinder nicht ausreichend beschützt? Oder tragen sie sogar Schuld? Denn plötzlich drohen alte Geheimnisse ans Licht zu kommen und Gewissheiten zu erschüttern. 
 
Die schwedische Autorin und Übersetzerin Malin Stehn ist in ihrer Heimat vor allem durch Kinder- und Jugendbücher bekannt geworden. Mit „Happy New Year“ wagt sie sich ins Spannungsgenre und kann unmittelbar überzeugen. Aus wechselnden Perspektiven erzählt sie die Geschichte, die immer ein paar Lücken lässt und so Raum für Spekulation eröffnet und die Spannung steigert. 
 
Happy, glücklich, ist leider keine der Figuren. Alle tragen sie ihr Päckchen, stecken fest in verfahrenen Beziehungen, haben den Kontakt zueinander verloren. Ein schreckliches Verbrechen bringt sie auch nicht wieder zusammen, sondern lässt sie noch weiter voneinander entfernen. Die Perspektivwechsel erlauben einen Einblick in die Gedanken und Zweifel der Figuren. Bald scheint alles möglich, jeder zu allem fähig, keine noch so schreckliche Tat mehr unvorstellbar. 
 
Eine spannende Geschichte, die alle Abgründe der menschlichen Natur an die Oberfläche spült und zeigt, wozu Rache fähig. 
Unschuld: Roman by Takis Würger

Go to review page

challenging reflective medium-paced

5.0

 
Fünfunddreißig Tage, etwas mehr als einen Monat noch hat Molly Carver, um die Unschuld ihres Vaters zu beweisen. Dieser sitzt im Todestrakt und soll hingerichtet werden. Für einen Mord, den er nicht begangen hat, da ist sich Molly sicher. Ihr bleibt nur eine einzige Chance: sie muss nach Rosendale, wo sie als kleines Kind lebte und direkt in das Auge des Orkans: in die Familie, die dem Ort den Namen gab und deren Sohn Casper zehn Jahre zuvor erschossen wurde. Nur bei der Familie selbst kann die Wahrheit liegen. Ihre Tarnung als Hausmädchen und Journalistin fliegt sofort auf, doch wundersamer Weise sie darf bleiben. 
 
Takis Würgers Roman „Unschuld“ ist eigentlich nach sehr schematischen, vorhersehbaren Strukturen klassisch als Krimi aufgebaut: der angenommenen Unschuld eines unheilbar kranken Mannes, der hingerichtet werden soll; seine Tochter, die in letzter Minute versucht die Wahrheit herauszufinden, um ihn zu retten; eine verquere Familie voller Geheimnisse, bei denen offenkundig der Schlüssel zu den Geschehnissen zehn Jahre zuvor liegt. Und doch liest sich die Geschichte, in der man sofort weiß, wer gut und wer böse ist, nicht wie ein klassischer Krimi. 
 
Man ahnt vom Beginn an, wie alles ausgehen wird. Man erkennt die Motive, kann vorhersehen, welche Wendungen die Figuren erst noch für sich aufdecken müssen. Nichts überrascht wirklich, der Spannungsbogen ist schön gestrickt, wie man es erwarten würde. All das und doch packt einem Takis Würger, entfaltet die Geschichte einen Sog, liest man einfach weiter, will man nicht aufhören, bis die Unschuld endlich bewiesen ist. 
 
Es wäre aber zu kurz gegriffen, nur 300 Seiten Unterhaltung in dem Roman zu sehen. Das verhindert der Autor zudem mit dem Nachwort, wenn es dem Leser nicht schon vorher als fader Beigeschmack bewusst geworden ist. Molly und ihr Vater bilden das untere Ende der amerikanischen Gesellschaft, Aufstieg ist eine Illusion, es kann nur noch weiter bergab gehen. Der Todestrakt und die unheilbare Huntington Krankheit scheinen das natürliche Schicksal des Vaters zu sein. 
 
Im Kontrast dazu die Rosendales, einst in einer Liga mit den Rockefellers können sie sich alles erlauben. Sich freikaufen. Die Regeln bestimmen, die nur zu ihren Gunsten aufgestellt werden. Dass sie ihr eigenes Leben nicht leben, sondern nur mit Medikamenten und esoterischen Retreats aushalten, passt ebenso ins Bild, wie die Vernarrtheit in Waffen und die großzügige Unterstützung der NRA. Doch auch sie sind vom Schicksal verdammt, können vermeintlich den finalen Todesstoß hinausschieben, dabei sind sie schon lange innerlich tot. 
 
Takis Würger zeichnet ein dunkles Bild der gegenwärtigen USA. Es ist nicht mehr das Land der Träume, in dem jeder alles erreichen kann. Es ist ein Sumpf, in dem schon lange moralische Orientierung und Werte versunken sind. So moralinsauer das klingen mag, kommt es aber in der Handlung nicht daher. Beiläufig lässt der Autor die großen Probleme der amerikanischen Gesellschaft aufblitzen, die jedoch zu Ursache und Treiber der Handlung werden. 
 
Ein Roman, dessen Relevanz sich aus der Nähe zu einer brutalen und schonungslosen Realität ergibt. 
Frau mit Messer by Gu Byeong-mo

Go to review page

challenging reflective medium-paced

5.0

 
Die Zeichen der Zeit lassen sich zunehmend nicht mehr ignorieren. Mit 65 spürt Hornclaw täglich, dass ihr Körper nicht mehr der einer jungen Frau ist und dass ihr nicht nur der Alltag, sondern vor allem ihr Beruf zunehmend schwerer fällt. Dabei ist es eigentlich ein Vorteil, denn als alte Frau wird sie in der Öffentlichkeit nicht mehr wahrgenommen, man sieht sie gar nicht erst und vergisst sofort wieder, dass sie da war. Für eine Auftragskillerin eigentlich perfekt. Doch nach 40 Jahren des Mordens entwickelt sie plötzlich auch Mitgefühl, steht anderen Menschen nicht mehr gleichgültig gegenüber. Eine Killerin mit Herz, kann es das geben? Viel drängender jedoch die Frage: bringt sie das nicht plötzlich selbst in Gefahr? 
 
Die südkoreanische Autorin Byeong-mo Gu ist in Deutschland noch unbekannt, mit „Frau mit Messer“ ist jetzt die erste Übersetzung erschienen. Der Roman kann als eine Art feministischer Krimi beschrieben werden, denn die Protagonistin hat wenig von einer eiskalten Mörderin, obwohl sie mehrfach emotionslos zum Messer greift und ihren Auftrag erledigt. Es ist ihr Lebensweg, der sie zu dem gemacht hat, was sie jetzt ist, und dieser Weg ist sehr spezifisch weiblich. Als Leser folgt man ihr mit gemischten Gefühlen, einerseits wirkt sie einsam und sympathisch, doch dann erlebt man wieder ihre andere Seite. Ein Roman, der verstört und berührt zugleich, mit einer Protagonistin, die zugleich Täterin und Opfer ist. 
 
Literatur aus Südkorea überschreitet oftmals die Grenzen dessen, was wir im Westen kennen. Unbequeme Wahrheiten und brutale Realitäten, vor denen man eigentlich lieber die Augen verschließen würde, werden in einer Weise geschildert, die sie als banal, alltäglich, schlichte Tatsachen erscheinen lassen und damit nochmals potenzieren. 
 
In Byeong-mo Gus Roman erlebt man dies auch wieder. Es gibt konkurrierende Agenturen, an die sich der Normalmensch für einen Mord wendet, beinahe so als wenn man ein Maklerbüro für eine neue Wohnung beauftragt. Die Killer kommen in allen Formen daher, was sie in den Menschenmassen untergehen lassen, jeder, der neben einem im Bus steht, könnte in der nächsten Sekunde zuschlagen. Wie Hornclaw, die unscheinbare ältere Frau. 
 
Ihren Alltag teilt sie nur mit einem alten Hund, zunehmend wird ihr Körper unbeweglicher und die Momente des Vergessens nehmen drastisch zu. Agil wird sie jedoch wieder im Kampf, bei dem sie dank ihrer Erfahrung auch starken jungen Männern so einiges entgegensetzen kann. Die Widersprüche lassen sich nicht auflösen, ergeben ein Bild mit Brüchen, das Hornclaw jedoch zu einer interessanten Figur macht, die die Handlung trägt und Fragen nach Moral und Recht schwer beantworten lässt. 
 
Eine außergewöhnliche Geschichte, die Spannungsmomente mit sozialkritischen, feministischen Tönen verbindet. 
Connemara by Nicolas Mathieu

Go to review page

challenging reflective medium-paced

5.0

 
Hélène hat erreicht, wovon sie als Jugendliche geträumt hat. Sie hat einen Abschluss einer renommierten Hochschule, einen gut bezahlten Job, einen erfolgreichen Mann und zwei Töchter – der soziale Aufstieg aus der Arbeiterklasse ist geglückt. Doch eine Depression und die Überforderung bringen sie und ihre Familie aus Paris zurück in die lothringische Provinz. Zunächst erholt sie sich, doch bald schon stellen sich die alten Gefühle wieder ein und sie droht erneut abzustürzen. Doch dann trifft sie Christophe wieder, den Eishockeyspieler, den sie als Teenager anhimmelte und mit dem sie versucht das nachzuholen, was sie lange entbehrte. 
 
Der Prix Goncourt Preisträger Nicolas Mathieu hat sich einem Thema angenommen, dass auch in der autobiografisch geprägten Literatur seit einiger Zeit omnipräsent ist und wofür nicht zuletzt Annie Ernaux jüngst den Literaturnobelpreis erhielt. „Connemara“ folgt einer jungen Frau, die geprägt ist vom Arbeitermilieu mit seinen spezifischen Werten und Lebensentwürfen, die jedoch als junges Mädchen schon ahnt, dass das Leben mehr zu bieten hat und die sich den sozialen Aufstieg hart erkämpft. Den zweiten Schwerpunkt des Romans bildet jene Krise, die immer mehr erfolgreiche Menschen schon früher als die klassische Midlife-Crisis zu treffen scheint: beruflich wie privat alles erreicht, ein Leben wie aus dem Bilderbuch, das dann mit Wucht von einer Depression und der Frage nach dem Sinn getroffen wird. 
 
Trotz allem Erfolg legt Hélène nie das Gefühl ab, nicht zu genügen. So sehr sie an sich arbeitet, sie kann ihre Herkunft nicht ablegen und muss in aller brutaler Härte erfahren, dass sie als Frau auch immer beim Aufstieg in die höchsten Etagen den Kürzeren ziehen wird. Dem Takt der Großstadt kann sie entfliehen, doch auch in der Provinz gelten letztlich dieselben Regeln. Die Affäre mit Christophe scheint der Ausweg, doch letztlich bringt das auch nur das, was eine Affäre ist: eine kurzzeitige Befriedigung. 
 
Christophe ist ein interessanter Gegenentwurf, obwohl als Ehemann - und eigentlich auch als Vater - gescheitert und beruflich weit weniger erfolgreich als Hélène wird er zur Sehnsuchtsfigur aus einer Erinnerung heraus. Er lebt in der Vergangenheit, will alte Erfolge im Sport wieder heraufbeschwören, die ihm die Bewunderung von Mädchen einbrachte. Doch auch für ihn hat das Leben andere Pläne. 
 
Gemeinsam ist beiden eine Unzufriedenheit. Auch wenn Träume verwirklicht werden konnten, hat das Leben die Erwartungen nicht erfüllt und ist im Jetzt gespickt von Enttäuschungen, Problemen und einem Gefühl der Verzweiflung. 
 
Die Stärke Mathieus liegt ganz ohne Frage darin, das Empfinden seiner Figuren greifbar zu machen. Sowohl die jugendlichen wie auch die erwachsenen Figuren wirken authentisch und transportieren das Lebensgefühl einer Generation von Aufsteigern, die hart arbeiten, sich anpassen und am Ende erkennen, dass das Glück doch nicht auf sie wartet. Ein starkes Portrait einer modernen Art von verlorener Generation. 
Galatea by Madeline Miller

Go to review page

challenging medium-paced

5.0

 
Der Pygmalion Mythos neu interpretiert. Zehn Jahre sind vergangen, seit Pygmalion seine in Stein gemeißelte Frau zum Leben erweckte. Nun befindet sich Galatea in eingesperrt in einem Zimmer unter Aufsicht einer Schwester und eines Arztes. Ihre Tochter darf sie nicht sehen, auch den Raum nicht verlassen. Die einzigen Unterbrechungen sind ein widerlicher Tee, den sie unter Aufsicht trinken muss, und der ihr Kopfschmerzen bereitet, und die Besuche ihres Gatten, bei denen sie ihren Schöpfungsmythos nachspielen muss. Doch nun will sie ausbrechen, vor allem für ihre Tochter Paphos, die nicht hinter einer neuerlichen Statue verschwinden soll. 
 
Madeline Miller ist mit Neuerzählungen klassischer Sagen in den vergangenen Jahren aufgefallen und vielfach ausgezeichnet worden. „Galatea“ ist nicht nur wegen der Kürze bemerkenswert anders, der Text unterscheidet sich vor allem dadurch, dass er Leerstellen füllt und die weibliche Sicht schildert, die Ovid in seinen Metamorphosen nicht bietet. Der zauberhafte Pygmalion Mythos erscheint dadurch in einem gänzlich anderen Licht. Ergänzt wird durch Text durch Illustrationen von Thomke Meyer, die der lebendigen Statue auch hier Leben einhauchen. 
 
Aus dem kreativen Schöpfer, der die Götter anfleht, wird ein herrschsüchtiger und gewalttätiger Mann, der Frau und Tochter kontrolliert, einsperrt und von Bildung fernhält. Was er als Schutz deklariert ist ein Beschneiden von Rechten, zu seinen eigenen gehört auch das Verfügen über den Körper seiner Frau, den er bewundert, nachdem er durch allerlei Hämatome wundervolle Farben auf ihn gezeichnet hat. 
 
Was in der Antike als Inbegriff grenzenloser Liebe erschienen sein mag, wirkt unter heutigem Blick wie der Inbegriff häuslicher, männlicher Gewalt in vielerlei Facetten, oft schweigsam geduldet und als übliche Geschlechterverhältnis herabgespielt. 
 
Vor- und Nachwort ordnen die kurze Geschichte gewinnbringend ein und erläutern den unterschiedlichen Deutungskontext, weshalb sie nicht überblättert werden sollten. So kurz die Geschichte und Neuinterpretation des Mythos ist, so stark wirkt sie nach in den Fragen, ob man Ovids Meisterwerk nicht nochmals unter einem anderen Blickwinkel betrachten sollte und ob wir nicht bestimmte Verhaltensweisen damit legitimiert haben, dass wir über Jahrhunderte zweifelhafte Verhältnisse unhinterfragt als große Literatur bewundert haben. 
The Winners by Fredrik Backman

Go to review page

challenging reflective medium-paced

5.0

 
A lot of time has passed since the tragic events of Beartown. Maya Andersson and Benji Ovich have left the village to start a new life somewhere else, the rest of the inhabitants has found a way of either forgetting or ignoring. But now they are threatened by a storm and a fateful series of events brings people home, opens up old wounds and creates new ones. Beartown as its rival village of Hed will never be the same again, they all will have changed and one person’s life especially will be determined by the events of only a very short time. 
 
I have read almost all novels by Fredrik Backman and yet, I am overwhelmed each time and even though I am all but prone to extreme emotion, I can’t help crying while reading his stories. From the first two books settled in the Swedish village of Beartown, I knew what to expect from “The Winners” and was somehow prepared, but nevertheless, the author managed to trigger something in me. 
 
Maybe it is the characters who are the most normal people one can imagine, who have their good and caring sides as well as the others which would much rather be hidden. Maybe it is the setting in an unknown village somewhere in the forest which nobody has ever heard of. It is the maximum of normalcy that we encounter in this trilogy and that makes you feel at home and bond with the characters immediately. 
 
Backman’s masterful foreshadowing gives a glimpse in what is to come, it only hints at the upcoming tragedies and thus raises suspense which keeps you reading on, unable to put the book aside. You know that something really dreadful, horrible is waiting at the end and yet, just like life goes on you continue until you reach that moment where you are hit with a hammer. 
 
I am lacking the words to adequately convey what the novel did to me, to describe the experience of reading and after the last page, of leaving this wonderful story. Backman is an exceptional author and his Beartown series is an exceptional read. 
Lessons by Ian McEwan

Go to review page

adventurous challenging reflective slow-paced

5.0

 
Eleven-year-old Roland Baines’ life changes dramatically when his Africa based parents decide to send him back to England to attend a boarding school and get the classic education. While the political landscape forms itself after the Second World War, the boy takes piano lessons with Miss Cornell who will shape not only his idea of music, she will become his first love. Incidentally or initiated by fate, Roland’s life will remain closely connected to global events, be it the cloud coming from Chernobyl, the beginning and end of the Cold War, or major crises such as AIDS and the pandemic. As we travel through his life, he has to learn some lessons, some taken light-heartedly, others a lot harder and leaving scars. 
 
I have been a huge fan of Ian McEwan’s novel for years and accordingly, I was keen to open his latest novel “Lessons”. What I have always appreciate most in his books is his carefully crafted characters who – hit by events outside their control – need to cope and to adjust. He is a wonderful narrator who easily makes you sink into the plot and forget everything around you. Even though “Lessons” does not focus that much on a single question as in “The Children Act” or “Saturday” and was much longer than most of his former writings, I hugely enjoyed how his protagonist’s character unfolds in front of us and becomes who he is when his life closes. 
 
The novel has been announced as “a chronicle of out times” and admittedly, that’s just what it is. By the example of Roland, he illustrates the last six decades, he chronicles British and European politics, arts, music and mind-set. Roland’s process of learning does not stop, life is a continuous process of trial and error, of mistakes and good decisions which all leave their mark. 
 
Interestingly, the protagonist is a rather passive character. He only ever reacts to what happens, his piano teacher’s advances, his wife’s running away, his career: Roland does not actively shape his life, it is the first and foremost the women he encounters who make him move and – even though they all remain minor characters – it’s them who bring the verve and dynamics into the action. 
 
I can imagine that some readers will find the novel a bit slow and lacking focus, yet, I totally adored it and enjoyed every minute of the read. 
Anleitung ein anderer zu werden by Édouard Louis

Go to review page

challenging reflective medium-paced

5.0

 
Mit seinem Roman „Das Ende von Eddy“ ist Édouard Louis 2014 schlagartig zum Star geworden. Der autobiografische Roman, der von seiner ärmlichen und von Gewalt geprägten Kindheit auf einem Dorf in der französischen Picardie erzählt, wurde mit Begeisterung aufgenommen. Es folgten „Im Herzen der Gewalt“, „Wer hat meinen Vater umgebracht“ und „Die Freiheit einer Frau“, die alle Themen seines Lebens aufgriffen – Gewalterfahrung, die schwierige Beziehung zu seinem Vater, das trostlose Leben seiner Mutter. Nun widmet er sich seiner Transformation, dem schwierigen Wegs aus dem unteren Arbeitermilieu über das Bürgertum bis hin zu den Reichen und Adligen, die die anerkanntesten Universitäten des Landes besuchen. Es ist sein Leben, aber nicht nur eines, denn er hat auf dem Weg zum berühmten Schriftsteller zahlreiche Leben gelebt – und das mit nicht einmal 30 Jahren. 
 
Es ist die Geschichte eines Kindes, das anders ist als die anderen, das früh Ausgrenzung und Diffamierung erlebt und nicht die Erwartungen der Familie, des Umfelds erfüllen kann. Er zieht sich zurück, versteckt sich in den Pausen in der Bibliothek, wo er auf den ersten Menschen trifft, der ihm eine Tür öffnet: die Tür zum Gymnasium. Als er Hallencourt hinter sich lässt und nach Amiens zieht, beginnt seine Verwandlung. Seine Freundin Elena zeigt ihm, dass es auch andere Leben gibt als jenes, das er kennt. Er macht Bekanntschaft mit Kunst und Literatur, saugt das bürgerliche Leben auf und ist wie betrunken davon. Zugleich entfernt er sich zunehmend von seiner Herkunft. Als er bei einer Lesung des Philosophen und Soziologen Didier Eribon hört, der einen ganz ähnlichen Weg hinter sich hat, erkennt er, dass er gerade Mal eine einzige Etappe gemeistert hat. Es gibt noch viel mehr, jenseits von Amiens und er entwickelt ein neues Ziel: es kann nicht weniger als die berühmte École normale supérieure für ihn sein, auch wenn alles dagegen spricht, dass er dort aufgenommen wird. 
 
Louis schildert die Geschichte eines Aufstiegs, des Weges von der ärmlichsten Klasse, wo das Essen knapp ist und Fernsehen und Alkohol dominieren, hin zum intellektuellen Olymp Frankreichs. Der junge Eddy merkt bald, dass es nicht alleine die formale Bildung, der Schulabschluss des Abiturs ist, der den Unterschied macht. Mit seiner Herkunft geht auch ein Habitus einher, den er nicht so leicht ablegen kann. Die Sprache verrät ihn, er muss lernen sich richtig zu kleiden, das Besteck anders zu halten – und immer wieder gibt es Grenzen. Jede Stufe höher, jede neue Klasse endet letztlich in der Erkenntnis, dass es noch eine andere darüber gibt. 
 
Die Demütigungen, die er als Kind erlebt hat, die Scham ob seiner bescheidenen Herkunft, aber auch die Wut auf die Eltern, die ihm nicht das gegeben haben, was andere ihren Kindern mitgeben – all das treibt ihn an und immer weiter. Zugleich kann er das Gefühl nicht ablegen ein Eindringling zu sein, nie wirklich dazuzugehören. Am Ende ist nichts mehr von dem kleinen Eddy übrig, als er plötzlich doch wieder alles infrage stellt. 
 
Das Thema des sozialen Aufstiegs ist seit einigen Jahren in autofiktionalen Romanen in Frankreich wie auch in Deutschland populär. Christian Baron schildert seinen Weg in „Ein Mann seiner Klasse“, Deniz Ohde in „Streulicht“ die komplexe Beziehung zum Vater, nachdem sie sich als Kind entfernt hat. Jenseits der Grenze setzen sich beispielsweise der bereits erwähnte Eribon in „Retour à Reims“ oder Annie Ernaux etwa in „La Honte“ mit der Frage von Herkunft, Identität und den sozialen Klassen auseinander. Sie alle zeigen, dass Bildung allein nicht ausreicht, wie sehr die Herkunft prägt und dass nur ein Bruch mit dieser zu dem tatsächlichen Aufstieg führen kann – ein Preis, der hoch ist. Mit einigen Jahren Abstand erkennt das auch Édouard Louis, weshalb seine Bücher nicht nur seine Therapie sind, sondern auch eine Gesellschaftskritik, die nachdenklich stimmt und für Deutschland genauso wahr ist, wie für Frankreich. 
Lucy by the Sea by Elizabeth Strout

Go to review page

challenging reflective slow-paced

5.0

 
When the pandemic hits New York, her ex-husband William convinces Lucy Barton to leave the city and to come to live with him in a house in a small town in Maine, by the sea. Lucy trusts Williams, in these fields he knows much better what to do and thus, she leaves her apartment behind, while their two daughters also flee the metropolis. Lucy experiences the first weeks and months like many of us did: life has come to a standstill, everybody is afraid of the fatal virus and interaction with human beings is reduced to the absolute minimum. However, this new situation also offers room for reflection and questioning decisions made, things said and done and all that ultimately matters in life. 
 
I was not really sure if I was already willing to read a novel in which the pandemic was a central aspect while the virus is still raging. However, I totally adore Elizabeth Strout’s novels and since I have met Lucy Barton before, I was looking forwards to “Lucy by the Sea”. As anticipated, I found the novel a wonderful read, slow in pace, which was simply perfect for the time portrayed and the topic, and deeply reflective which I personally perceived just like an invitation for myself, to take some time and seize the chance of the standstill to look back and ponder on where I have come from and where I want to go to. 
 
Apart from the new rules in life – keeping a distance, wearing a mask, obeying lockdown – Elizabeth Strout again focuses on the fragile and complex family bonds that her characters are born in and cannot escape. William finds a part of his family and gets closer when everybody is getting more distant; their daughters Chrissy and Becka have grown up and find a renewed sisterly bond. Lucy has to accept that the girls have become independent and do not need their mother that much anymore. But also the couples’ relationships are put to a test. William and Lucy have been friendly for some time after their divorce, but can living under the same roof work? Lucy comes to understand that love can take different forms and is expressed in diverse ways and loving also means that losing is hard. 
 
Without a doubt one of this year’s absolute highlights. The protagonist feels like a dear and close friend and towards the end, I did not want the novel to stop, but just to go on forever. Elizabeth Strout, again, has not only captured the mood of the pandemic and chronicled our lives but also demonstrates her deep insight in our human condition and what makes us real humans. 
No Country for Eight-Spot Butterflies: A Lyric Essay by Julian Aguon

Go to review page

challenging reflective medium-paced

5.0

 
Julian Aguon is a human rights lawyer and defender from Guam. “No Country for Eight-Spot Butterflies” is a collection of poems, essays and speeches which center around crucial topics such as colonisation, climate change and the rights of indigenous populations. In total, it forms into a manifesto for the respect of life on earth, no matter if human, animal or plant. He gives insight in his own process of growing up, of gaining insight and learning that even though we as humans should care for the same ideas and aims, the world often works with other mechanisms. 
 
The author has formed a strong voice which immediately captures the reader. In the afterword, he states what he thinks is crucial at the moment, it is not being loud, but to listen. He does not use an accusatory tone, but a quite voice which makes you concentrate more on what is said, paying more attention and reading more closely. 
 
Some of the essays provided new information to me, in others, it was mainly the perspective that was new and which I have ignored so far. It is beautifully written despite the seriousness of the topic and the increasing urgency for action. 
 
An outstanding collection that definitely does leave an impact on the reader.