jonathanelias's reviews
123 reviews

Mein Jahr der Ruhe und Entspannung by Ottessa Moshfegh

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4.5

Puh, eindrücklich. 300 Seiten über die Frau ihrer Wohnung, wie sie versucht möglichst viel zu schlafen. Und Moshfegh hat wirklich einen tollen Stil - “eindringlich und giftig”, “unerbittliche Vehemenz”, “eine der wichtigsten neuen Stimmen der amerikanischen Literatur”. Den Eindruck macht es auf mich auch. Auch der Vergleich der NYT mit Patrick Bateman von Bret Easton Ellis ist interessant: “seelenlose Antihelden” 
— 
Dann geht es auch schon los mit Ottessa Moshfeghs gut verstörendem Kracher „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“: Im Roman beschließt eine privilegierte junge Kunsthistorikerin, sich mithilfe von starken Schlaf- und Beruhigungsmitteln ein Jahr lang immer wieder in lange Ruhephasen zu versetzen, während der Wahnsinn von New York draußen an ihr vorüber zieht. Unter der zynisch-nonchalanten Oberfläche der Protagonistin brodelt es – ob ihr Plan der Verpuppung und Erneuerung aufgeht? So einen Roman über die Opioid-Krise hat man noch nicht gelesen. (Papierstau Podcast)

Lunar Park by Bret Easton Ellis

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5.0

Das war ein Pageturner, und gleichzeitig so herrlich metafiktional und bedeutungsoffen. Ganz großer Author. 
Pick me Girls by Sophie Passmann

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2.5

Ganz flotte Schreibe (die einer unserer Generation, social media dies das; nix literarische), Anliegen auch irgendwie verstanden (”du, junges Mädchen, bist besonders, aber nicht einzigartig”). Insgesamt son mixed bag aus vielen Einzelnkapiteln wo jetzt nicht so das mega packende Leseerlebnis bzw irgendeine klare feministische Theorie raus wird. 
Victory City by Salman Rushdie

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Did not finish book.
Bis S60 gelesen. Nicht mit dem Setting & Modus warm geworden. Ich will einfach nicht 400 S in diesem Tonfall in so einem pseudohistorischen Setting lesen. Leichte 


 Daniel Kehlmann Vibes.
Heimweh nach einer anderen Welt by Ottessa Moshfegh

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4.0

Sehr starke Autoren. Geschichten mit 20-40S, die alle einen klaren emotionalen Impact haben. Flott durchgelesen. 
Die jüngste Tochter by Fatima Daas

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Die Form ist schon irgendwie originell. Auch nervig, sie lässt einen an der Oberfläche bleiben. Es hat also etwas von einem Poem, in Buchlänge. Drastischer Kontrast zur Geschwätzigkeit Knausgårds. Formal also etwas Ähnlichkeit mit 'Pond' und Helen deWitt - kurze Episoden, Zeitsprünge, Mosaikmäßig. 

In 2-3 Stunden durchgelesen. 
Der kurze Brief zum langen Abschied by Peter Handke

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Did not finish book.
Tolle Rezension, die erfasst,.worum es da Handke eigtl geht: 
Wer deswegen als vorherrschendes Klima in Handkes Buch Kälte und Ekel wahrzunehmen glaubt und dazu dann gar »mangelnde Humanität« oder dergleichen assoziiert, sollte versuchen, genauer hinzusehen; vielleicht könnte ihm ein Satz Nietzsches auf die Spur helfen, der präzise wie wahrscheinlich kaum ein anderer artikuliert, was Handkes Lebensgefühl ausmacht: »Meine Humanität besteht nicht darin, mitzufühlen, wie der Mensch ist, sondern es auszuhalten, daß ich ihn mitfühle ... Meine Humanität ist eine beständige Selbstüberwindung.«Lesevergnügen? Nach alledem? Durchaus. Nicht nur, weil jeder Satz, auch wenn er. aus der Niedergeschlagenheit kommt, eine einzigartige Beobachtungs- und Sinnlichkeitsqualität aufweist, sondern weil ein Hauptteil dieser Qualität gerade in dem Lesevergnügen besteht, das den Erzähler bei Handke selbst immer wieder überkommt -- »Eine zwanghafte Sympathie stellte sich bei mir ein mit allem, nur dadurch, daß ich es beschrieben fand« -, und weil diese Sympathie sich so spontan und stark überträgt, daß man plötzlich wieder, was ja selten genug ist, Lust auch auf andere Bücher bekommt. Etwa auf eben jenen »Grünen Heinrich« Kellers« der Handkes Ich auf dieser Reise am meisten bewegt.Wie »Der grüne Heinrich« besteht Handkes Buch aus lauter Abschweifungen und Phantasien. Judith, »das von keiner Wirklichkeit getrübte Phantasiebild einer Frau«, das Keller geschaffen hat. Judith, so heißt nicht von ungefähr auch eine der Frauen bei Handke. Es drängen sich noch viele Parallelen auf. Eine zu einem anderen Buch, an die Handke selbst kaum gedacht haben dürfte (und die eher existentiell als literarisch existiert), ist für mich besonders frappierend: die Parallele zu Dostojewskis »Idiot«, einem Buch, das ebenfalls aus lauter Abschweifungen besteht und vom gleichen unglücklichen Bewußtsein bestimmt wird, das Rückwärtsträume so sehr begünstigt und die Konzentration auf eine »Idee« verwehrt ("Damals waren die Menschen noch von einer einzigen Idee erfüllt, jetzt sind sie nervöser«, sagt Myschkin).Auch Myschkin weiß kaum je, warum er tut. was er tut; auch er kann Glück und Unglück nicht auseinanderhalten; auch er urteilt über Menschen und Dinge nicht, sondern erfährt sie nur und versucht die Erfahrungen auszuhalten; auch er wirkt ebenso schamhaft wie hochmütig ("Sie müssen sich immer interessant machen«, wirft ihm Aglaja vor; bei Handke wird gefragt: »Muß ich mich denn immer noch darstellen, damit man mich wahrnimmt?"); auch er ist empfindsam bis zum Exzeß (bei Handke wird nach der Lektüre einer Keller-Szene ausführlich geweint) und, vor allem, auch er existiert wirklich nur im Erzählen und möchte doch jede Erzählung gleich wieder ungeschehen machen (Aglaja: »Jedesmal, wenn Sie mit einer Erzählung fertig sind, schämen Sie sich sofort dessen, was Sie erzählt haben").Die wichtigste Parallele zwischen Handke und Keller sowohl als Dostojewski: das Staunen, mit dem diese fast ein Jahrhundert voneinander getrennten Helden in die Welt schauen. Handke spricht voll Abscheu von Menschen. »die alles, was sie sehen, auch das Erstaunlichste, sofort auf einen Begriff bringen wollen ... und damit aufhören. es zu erleben« --

Das Leben des Vernon Subutex by Virginie Despentes

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5.0

Sound
  • lässig, urban, cool, slangig, Paris, in-the-moment
  • scharf/präzise/mit schnellen Strichen charakterisiert
  • die unangenehmen/hässlichen Sachen geradeheraus/derb/strunk-esk beschreibend
  • Markennamen
  • Beispiele 
    • “Emilie frühstückt Weibermüsli, Zeug, das den Stuhlgang fordert und nach Heu schmeckt, er hat brav ein paar Löffel davon gegessen, aber dann hatte er Angst, dass er davon gleich kacken muss. Gestern war er bei McDo auf dem Klo, […]” (57)
    • "Sie ist supersüß, hat viel zu viel Klasse für eine Schauspielerin, mit ihrer Karriere geht es auch nicht so richtig voran, obwohl sie viel hübscher ist und mehr Präsenz hat als die ganzen magersüchtigen Schwanzlutscherinnen am Set." (S67)
    • "Jetzt im Monoprix hätte er gern eine Bazooka dabei. Die dicke Blonde da mit ihren fetten Schenkeln in Minishorts, die sich rausputzt, als wäre sie ein Klasseweib, dabei ist sie einfach eine Kuh: eine Kugel in den Kopf. Das Pärchen dort im Kooples-Stil, katholisch und ultrarechts, sie mit Retrobrille und straff nach hinten gekämmten Haaren, er mit Schönlingsfresse und Ohrhörer, der zwischen den Regalen telefoniert, während sie nur superteures Zeug einpacken, beide in cremefarbenem Regenmantel, damit man auch ja sieht, dass sie Rechte sind: eine Kugel in die Fresse. Der dicke Geldsack, der auf den Arsch der Mädchen starrt, während er sein Halalfleisch kauft: eine Kugel in die Schläfe. Die Judenmammi mit ihrer Perücke und den widerlichen Titten, die ihr gleich überm Nabel gewachsen sind, er hasst Weiber, die ihre Titten mitten auf dem Bauch haben: eine Kugel ins Knie. Einfach draufhalten, zusehen, wenn die Überlebenden wie Ratten davonrasen und sich unter den Regalen verkriechen, die ganze Scheißsbande, die hier versammelt ist, um sich den Wanst vollzuschlagen, mit ihrem erbärmlichen Hang zum Lügen, Schummeln, Tricksen, Vordrängeln, Angeben. Alles in die Luft jagen. Aber er ist Vater, er ist ein verheiraterer Mann, er ist ein erwachsener Mann, also hält er das Maul, füllt seinen Wagen und schäumt vor Wut, zu Hause muss er das alles auch noch einräumen, sonst ist MarieAnge sauer, und wieder ein Tag ohne Schreiben. Ihm tut der Kiefer weh, so fest beißt er die Zähne zusammen." (S69)

Themen:
 
  • Die Gesellschaft wird portraitiert, ähnlich wie Faserland will es den Zeitgeist einfangen. Aber Faserland schildert ja nur einen bestimmten Blickwinkel. Dieses Panorama mit den alle zwanzig Seiten wechselnden Vielzahl an Stimmen fühlt sich ja wie ein Kaleidoskop an dagegen.
  • Rassismus 63
  • Kinder 74
  • Ehe 80

Charaktere: sehr schnell lebendig, echt.
 
  • Seine verstorbenen Freunde: machen sein Leben dreidimensional
  • S155 Lydia: Social Media süchtig, Kokain, Sex sex sex, Musikjournalistin / Buch schreiben
  • Beispiele 
    • "Sie ist nicht hübsch. Sie ist spröde, ihr Gesicht ist hart, die Lippen sind zu dünn. Sie zieht sich schlecht an. Sie rennt rum wie eine Depressive, die aus der Mülltonne einer alten Frau drei abgetragene Pullis gezogen hat, die sie übereinander zu einer Bundfaltenhose trägt, die über den Knöcheln aufhört. Vernon weiß, dass es ein Reichenlook ist. Er hatte mal so eine Freundin, zart, aber reizvoll. Sie trug Kakikleider, die aussahen, als hätte man sie mit dem Cutter aus einem Sack geschnitten — oder lange braune Westen mit riesigen Knopflöchern. Er, der sie oft nackt sah, wusste, dass sie gut gebaut war. Aber darauf wäre man bestimmt nicht gekommen, wenn man sie angezogen sah. Sie war eine Tochter aus gutem Hause, klassische Tänzerin, sehnig und muskulös, mit brutal deformierten Füßen. Irgendwann hatte Vernon in einem Gespräch mitbekommen, dass sie ein Vermögen für ihre Klamotten ausgab. Sie steckte keineswegs in einer Depression, wie er vermutet hatte, oder war Opfer einer so schlimmen sexuellen Traumatisierung, dass sie beschlossen hätte, ihren Körper zu verstecken, sie schnitt auch keine Fetzen mit der Schere aus einem Vorhang nur für den Spaß, super hässlich auszusehen. Im Gegenteil, das waren teure Klamotten, die sie sorgfältig auswählte, auf die sie stolz war und die sie mit dem Bewusstsein trug, damit echte Le benskunst zu verteidigen. Das ist das Problem! Wenn die Weiber mit anderen Weibern ganz unter sich schwatzen, kommen sie zu Ergebnissen ohne Sinn und Verstand, und ihm soll bloß keiner erzählen, darin liege nıcht ım Grunde eine tiefe Feindschaft gegen die mannlıche Libido." (S76)

Stil
 
  • Im Präsens erzählt: man ist unmittelbar drin
  • Verschiedene personale Erzähler

Bewertung
 
  • S100: Phänomenal geschrieben, ein Pageturner. 00:49 spricht für sich ;)
  • S198: Daniel trans story, Pam die ex-”porneuse”. Super interessant
  • S222: Partyszene, Stream of consciousness des traders. Ich krieg Tränen in den Augen, ist das gut
  • S262: noch so ne geile Perspektiverweiterung: Aisha, die gläubige Muslimin, die entdeckt dass ihre Mutter Pornodarstellerin war
  • S286: puoa - Gewalt in der Ehe .. krasse Schilderung

Auslöschung. Ein Zerfall by Thomas Bernhard

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S48: Bernhard Sog. Kluge spannende Gedanken. 
S90 er geht im gewohnten Bernhard Monolog seine Familie durch: die Schwestern, den Bruder, die Mutter, den Vater, ausführlich den prägenden Onkel Georg. 
Thematisch zentral: die Intellektlosigkeit/Geistlosigkeit seiner Sippe. Demgegenüber sein frühes Interesse für Erkunden, Weltoffenheit, Literatur, Kunst 
Meine Gedanken: thematisch ist das 1:1 dieselbe Beschwerde wie in 'Beton'. Der Geistesmensch gehen die bornierte Österreicher Gesellschaft. Stilistisch auch same same: 
  • Wikipedia Artikel zu Stil:
  • Bernhard spielt bevorzugt mit den Stilmitteln der Suada, der monologisierenden Rede, der Polemik und des Kontraintuitiven. In den Prosawerken erzielt Bernhard eine Distanzierung von den Tiraden des Monologisierenden, indem er sie den stillen Zuhörer sozusagen aus zweiter Hand wiedergeben lässt. Einschaltungen wie „sagte er“, „so Reger“ etc. sind kennzeichnend für den Stil Bernhards.
    Die Monologisierenden sind nicht selten Wissenschaftler, durchweg – um Bernhards eigene Terminologie zu verwenden – „Geistesmenschen“, die in langen Schimpftiraden gegen die „stumpfsinnige Masse“ Stellung beziehen und mit ihrem scharfen Verstand alles angreifen, was dem Österreicher traditionell „heilig“ ist: den Staat selbst, den Bernhard gerne als „katholisch-nationalsozialistisch“ bezeichnet; anerkannte österreichische Institutionen wie das Wiener Burgtheater, allseits verehrte Künstler etc.
    Bernhards Hauptfiguren setzen in kategorischen Behauptungen ihre Aussagen oft absolut. Kennzeichnend für die Monologe seiner Protagonisten sind Ausdrücke wie „naturgemäß“, „alle“, „nichts“, „immer nur“, „fortwährend“, „durchaus“ etc. Von vornherein schalten sie mit Sätzen wie „darüber gibt es doch gar nichts zu diskutieren“, „da kann man sagen, was man will“ u. ä. jeden möglichen Einwand aus.
    Ein besonderes stilistisches Merkmal von Bernhards Prosa ist eine Technik der Steigerung, der Übertreibung, des sich Hineinsteigerns beziehungsweise des sich Versteigens in fixe Ideen, was jeweils sehr kunstvoll durch eine Wiederholungstechnik orchestriert wird, in der bestimmte Themen, Versatzstücke und abfällige Bezeichnungen mit hoher Frequenz wiederholt (aber immer auch leicht variiert) und dabei immer weiter gesteigert werden. Diese Technik Bernhards ist Kompositionsmethoden der Barockmusik und der seriellen Musik verwandt, solche Passagen sind oft komische Höhepunkte seiner Werke. Seine Sprache hat eine starke melodische Wirkung

Der Reiz ist natürlich da, aber man fragt sich schon - warum so viele Texte, die alle das gleiche erzählen? Schätze es ist so wie sich 9 Chiantis bestellen.. 🤷‍♂️🙂
 
Themen
 
  • Im Dorf 86
  • Bruder vs er 88
  • Lehrer & Richter 91
  • Bruder & Vater: geschauspielerter Arbeitseifer 93
  • Arbeitsschauspielende vs Intellektuelle 96
  • Hüpfende Schwestern 97, dilletantisches Strickzeug 100
  • Dominanter Geschmack der Mutter 102
  • Haten auf Österreich 112
  • Glückliches Posen auf Fotos 126
  • “Ich habe meine Ubertreibungskunst in eine unglaubliche Höhe entwickelt. Um etwas begreiflich zu machen, müssen wir übertreiben. Nur die Übertreibung macht anschaulich.” 128
  • Hervorragende Schriftsteller 139
  • Katholischer Geist vernichtet den eigenen Geizt, den selbständigen, unabhängigen, welcher allein der natürliche ist 143
  • Voltaire, Montaigne und Descartes in Bibliothek eingesperrt 147
    • Kant und Schopenhauer: “wichtigsten Werke des bösen Geistes” 149
  • Intellektuelle Selbstzweifel 154

Gedanken/Zitate
 
die Welt nicht nur, wie allgemein üblich angenommen wird, aus einer einzigen Familie, sondern aus Millionen Familien besteht, aus nicht nur einem einzigen Ort, sondern aus Millionen solcher Orte und nicht nur aus einem einzigen Volk, sondern aus vielen Hunderten und Tausenden von Völkern und nicht nur aus einem einzigen Land, sondern aus vielen Hunderten und Tausenden von Ländern, die alle jeweils die schönsten und wichtigsten sind. Die ganze Menschheit ist eine unendliche mit allen Schönheiten und Möglichkeiten, sagte mein Onkel Georg. Nur der Stumpfsinnige glaubt, die Welt höre da auf, wo er selbst aufhört. Mein Onkel Georg hat mich aber nicht nur in die Literatur eingeführt und mir die Literatur als das Paradies ohne Ende geöffnet, er hat mich auch in die Welt der Musik eingeführt und mir für alle Künste die Augen geöffnet. Erst wenn wir einen ordentlichen Kunstbegriff haben, haben wir auch einen ordentlichen Naturbegriff, sagte er. Erst wenn wir den Kunstbegriff richtig anwenden und also genießen können, können wir auch die Natur richtig anwenden und genießen. Die meisten Menschen kommen niemals zu einem Kunstbegriff, nicht einmal zu dem einfachsten und begreifen dadurch auch niemals die Natur. Die ideale Anschauung der Natur setzt einen idealen Kunstbegriff voraus, sagte er. Die Menschen, die vorgeben, die Natur zu sehen, aber keinen Kunstbegriff haben, sehen die Natur nur oberflächlich und niemals ideal und das heißt, in ihrer ganzen unendlichen Großartigkeit, Der Geistesmensch hat die Chance, zuerst, über die Natur zu einem idealen Kunstbegriff zukommen. (S34)

Sie sahen den Onkel Georg sich in der Sonne räkeln, in allen möglichen selbstverständlich maßgeschneiderten Pariser Leinenanzügen am Meeresufer promenieren, und in ihren Träumen, die naturgemäß immer nur Alpträume gewesen waren, betrat er, den sie zeitlebens nur einen nichtsnutzen Schurken genannt haben, immer wieder die Bankportale in den Rivieranobelorten, um sich die Zinsen seines sich von Tag zu Tag ganz von selber vergrößernden Vermögens abzuheben. Sie waren zu dumm, um an eine Geistesexistenz auch nur zu glauben. Mein Onkel Georg führte eine Geistesexistenz, wie ein paar Hundert vollgeschriebene Notizbücher beweisen. Die Beschränktheit des Mitteleuropäers, der, wie ja gesagt wird, lebt, um zu arbeiten, anstatt zu arbeiten, um zu leben, wobei es ganz und gar gleichgültig ist, was unter Arbeit zu verstehen ist, war meinem Onkel Georg schon sehr früh auf die Nerven gegangen und er hatte die Konsequenz aus seinen Überlegungen gezogen. Das Aufderstelletreten war seine Sache nicht. In seinen Kopf muß der Mensch frische Luft hereinlassen, sagte er immer wieder, das heißt, er muß immer wieder, und zwar tagtäglich, die Welt in seinen Kopf hereinlassen. In Wolfsegg haben sie niemals frische Luft in ihren Kopf und also auch nicht die Welt in ihn hineingelassen, Starr und steif saßen sie, so wie sie darauf gemacht worden sind, auf ihrem Erbe zu keinem anderen Zweck, als immer nur darauf zu achten, daß sich dieses Erbe als gigantischer Besitzklumpen nur noch mehr und mehr verfestigte, ja nicht auflöste. (S37)

Meine Eltern, um noch ein Beispiel für den Gegensatz anzuführen, in welchen sie zu meinem Onkel Georg standen, haßten das sogenannte Nichtstun, weil sie sich nicht vorstellen konnten, daß ein Geistesmensch das Nichtstun gar nicht kennt, es sich gar nicht leisten kann, daß ein Geistesmensch gerade dann in der äußersten Anspannung und in dem allergrößten Interesse existiert, wenn er sozusagen dem Nichtstun frönt, weil sie mit ihrem tatsächlichen Nichtstun gar nichts anfangen konnten, weil in ihrem Nichtstun tatsächlich gar nichts vorging, weil sie in Wahrheit und in Wirklichkeit überhaupt nicht denken, geschweige denn einen Geistesprozeß zu führen imstande waren. Dem Geistesmenschen ist das sogenannte Nichtstun ja gar nicht möglich. Ihr Nichtstun allerdings war ein tatsächliches Nichtstun, denn es tat sich in ihnen nichts, wenn sie nichts taten. Der Geistesmensch ist aber genau im Gegenteil am allertätigsten, wenn er sozusagen nichts tut. Aber das ist den tatsächlichen Nichtstuern, wie meinen Eltern und überhaupt den Meinigen, nicht plausibel zu machen. Andererseits hatten sie aber doch eine Ahnung von der Art und Weise des Nichtstuns meines Onkels Georg, denn gerade weil sie eine Ahnung davon hatten, haßten sie ihn, denn sie ahnten, daß sein Nichtstun ihnen, weil es ein anderes, ja ein dem ihrigen genau entgegengesetztes Nichtstun war, nicht nur gefährlich werden konnte, sondern immer gefährlich war. (S47)

Der Morgenstern by Karl Ove Knausgård

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Die Charaktere mochte ich, waren interessant und dreidimensional. Typische Knausgård Elemente / Tropen (Garnelen & Brot Abendessen inkl. dafür Einkaufen .. 😀 1:1 in der Autobiographie). Auch die philosophischen Ausschweifungen, die ich in den Autobiographien teilweise geskippt hatte, waren mir hier gehen Ende etwas überbordend. Aber insgesamt ist Knausgårds Stil schon einfach meins. Spannend auch, dass der neue Stern gar nicht plotmäßig aufgelöst worden ist.